Das Spiel mit der Angst

»Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnert, ist verurteilt, sie zu wiederholen.« (George Santayana).

Wir schreiben das Jahr 1692, als im US-Amerikanischen Ort Salem eine Hexenverfolgung ausbricht, an deren Ende zwanzig Menschen verurteilt und hingerichtet werden. Während der McCarthy Ära in den 1950ern in den USA, in der aus Furcht vor Kommunismus alle Verdächtigen ohne Beweise verfolgt wurden, setzt der Schriftsteller Arthur Miller den Stoff für die Bühne um. Er erkennt die Verbindungen zwischen den Hexenprozessen und der Kommunistenverfolgung schreibt das Stück als Allegorie auf die politische Situation seiner Zeit.

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Auch knapp 60 Jahre nach der Uraufführung besitzt Hexenjagd noch immer Relevanz für seine Zuschauer, obwohl der politische Kontext ein ganz anderer ist. Die Atmosphäre ist bedrückend, wenn sich das enorme Holzgerüst auf der Bühne des Stadttheaters erhebt. Die rustikale Tribüne wird bewohnt von Gestalten, die ehrfürchtig an Gott und Teufel glauben und ihre Kinder bei Ungehorsam mit dem Gürtel prügeln und bringt uns zurück in die Zeit von Aberglaube und Herrschaft der Kirche. Das Stück beginnt, als Abigail Williams zusammen mit anderen Mädchen von ihrem Onkel, dem Pastor Samuel Parris, nachts im Wald beim Tanzen erwischt wird. Sofort vermutet er okkulte Rituale und böse Mächte. Als einige der ertappten Mädchen, darunter seine Tochter Betty, in einen komatösen Zustand fallen, sieht er seinen Verdacht bestätigt: Hexerei ist am Werk! Sofort lässt er nach Pastor Hale rufen, einem Spezialisten auf diesem Gebiet. Die Mädchen gestehen und aus den Opfern werden schnell Anklägerinnen, die andere Frauen der Hexerei beschuldigen. Geblendet von Angst und Panik übergeben die Geistlichen die Verantwortung an höhere Instanzen. Dabei erkennen sie nicht, dass die Mädchen nur aus Selbstschutz ihre eigenen Interessen verfolgen. Als ihre Lügen aufgedeckt werden, sind bereits Dutzende verurteilt. Es trifft zunächst die Außenseiter, die schwächsten Glieder der Kette – die, die sich nicht wehren können und für die sich niemand einsetzt. Erst, als auch angesehene Bürger der Hexerei bezichtigt werden, kommen Zweifel und Gegenstimmen auf. Doch die Situation ist bereits so weit fortgeschritten, dass sie sich kaum noch aufhalten lässt, und jedes Argument der Vernunft wird mit weiteren Anklagen erstickt.

In meinen Augen hätte sich die Situation verhindern lassen können – zumindest in der Hexenjagd – denn alles, was die Gemeinde verlangt, sind die beruhigenden Worte einer Autoritätsperson. Stattdessen lassen sich die beiden Pastoren Parris und Hale von der Verunsicherung anstecken, sind besorgt um ihr Ansehen oder nicht in der Lage, die komplexen Beziehungsgeflechte in Salem zu durchblicken. Anstatt selbst zu reagieren geben sie ihre Verantwortung an höhere Instanzen ab, der sie in ihrer selbstgeschaffenen Machtlosigkeit nichts entgegenzusetzen haben.

Als ich mir die psychologische Studie dieser zutiefst gespalteten Gesellschaft auf der Bühne ansehe, komme ich nicht umhin, Parallelen zu den aktuellen Geschehnissen zu erkennen, die regelmäßig Thema der lokalen Nachrichten sind: Terrorismus, Flüchtlingskrise und Aufstieg der AfD, um nur einige Beispiele zu nennen. Fassungslos verfolge ich, wie mit dem Schlagwort »Lügenpresse« jene mundtot gemacht werden, die versuchen, die Lage zu erklären. Die gleiche Fassungslosigkeit sucht mich in Hexenjagd heim, wenn Hexenjagd_02_Foto_PhilippOttendoerferdie Mädchen um Abigail Williams kreischen und anklagen und ihnen die Menschen glauben, von Hexen verfolgt zu werden. Dabei verstehe ich, dass es die Angst vor dem Ungewissen ist, die Menschen zur Massenhysterie treibt und dass es nur allzu verlockend ist, aus gefühlter Benachteiligung und Zufällen einen Sinn zu erkennen. Da ist zum Beispiel Ann Putnam, die sieben ihrer Kinder verloren hat und einen Schuldigen sucht. Oder Giles Corey, der verunsichert ist, weil seine Frau Bücher liest (Gott behüte!) und er wissen will, warum. Trotzdem fällt es mir schwer zu verstehen, wie eine solche Bewegung, die aus Angst und Hass gespeist ist, immer mehr Anhänger gewinnt, die Fakten gegenüber taub sind und nur noch in absoluten Gegensätzen denken. Dafür oder dagegen, schwarz oder weiß – dazwischen gibt es nichts mehr. Dabei ist es der Dialog, der zu Lösungen führt und nicht die starre Verbissenheit beider Positionen darauf, im Recht zu sein.

So versteht sich das Theater Bielefeld, unter dem aktuellen Spielzeitmotto »Diesen Kuss der ganzen Welt!«, nicht nur als einen Raum für Kunst sondern auch für Meinungsaustausch. Hexenjagd hilft uns zu verstehen, wie die Verschwörungstheorie der Hexenlehre in einer doch eigentlich aufgeklärten Stadt langsam eskaliert, bis es kein Zurück mehr gibt. Vielleicht kann das Theater nicht alle Probleme der Welt lösen und Weltfrieden stiften. Wenn aber die Zuschauer am Ende der Hexenjagd darüber nachdenken, wie eine Gruppe von Menschen, die sich und ihre Interessen nicht ernst genommen fühlt, so plötzlich an Macht gewinnen konnte, haben wir damit schon viel erreicht.

Ich glaube nicht an Hexen und Verschwörungen, sondern an Fakten und die Fähigkeit des Menschen, zu lernen. Und das wirksamste Mittel gegen Angst ist nicht, sie zu ignorieren oder zu beschwichtigen, sondern ihr mit Vernunft entgegenzutreten. Was glaubt Ihr?