Der Kampf um das ICH

Nach Lektüre des Beitrags Wir sind die einen und die anderen stellen sich mir mehrere Fragen, die eines kleinen, gewollt provokativen Textes bedürfen, um der Suche nach möglichen Antworten Raum zu geben.

Das im genannten Text gern benutzte WIR basiert in erster Linie auf einer Gegenhaltung – gegen die Versuchung des Rückzugs in die eigenen vier Wände, gegen das Wegsehen vor Elend und Leid, gegen die Verlockungen der Risikogesellschaft, gegen die Menschenfeindlichkeit, gegen die falschen Propheten und die populistischen WIR-Schreier, gegen den Fremdenhass und in casus belli gegen das Individuum als solches. Letzteres erscheint mir vor dem Hintergrund der Abhandlung als einzige Erklärung, bilanziert der Autor doch das WIR als »Frage nach der Identität und dem Selbst […]«, gräbt nach dem Pluralis Majestatis des Pronomens WIR und folgert, dass WIR die Einen sind und die Anderen werden können.

Hm?

Unbestritten offeriert der Text richtige, im moralischen Sinne gute und dem gesellschaftlichen Konsens (des Bürgertums) entsprechende Momente eines kollektiven Miteinanders, deren Appell und Fanal nicht laut genug sein können, doch finde ich mich als kleine Person in diesem fernen WIR nicht wieder, frage mich, wo der Mensch, die Seele und das Individuum geblieben sind – also: Wo bin ich?

Der freie Geist, welcher nun unbestritten nur aus dem ICH heraus erwachsen und sich emanzipieren kann, weicht einem schwammigen WIR-Sein, das sich dem Ideal des vorwärtsstrebenden Individuums hier in vermeintlich guter Absicht in den Weg stellt. Das sinnliche Erfahrbarmachen des Geistigen bedingt einer individuellen Verselbstigung. Dieser Vorgang evoziert im Idealfall ähnliche Erfahrbarkeiten im Gesellschaftlichen, die damit im Moment ihrer Zusammenführung, nämlich über die Individuen, die »richtigen« sind, geboren aus der Idee des Vorwärtsgehens des Einen, der Anderen, der Vielen …

Jenes WIR-Beharren, der Zwang, sich einer Konsenswelt unterwerfen zu müssen, um gesellschaftlich als akzeptabel zu gelten – in wessen Augen? – und die Negation eines individuellen, meinetwegen sogar hedonistischen Heranwachsens von Geist und Seele generieren doch jene Verhärtung, die Philosophen gern als das Hässliche titulieren, das Verwerfliche und somit den Zerfall des Sinnlichen und in Einheit des Geistigen – da sind sie: die Einheitsdenker, die Nein-Schreier, die Dagegen-Rüpel … und die Dafür-Rüpel.

Heruntergebrochen ist es also viel schlimmer: Jene Verhaftung erweckt genau die Geister, die es doch zu bekämpfen gilt, diese abgestumpften WIR-Rufer, die sich der Empathie, der Farbenwelt der Erfahrbarkeiten und jenem individuellen Drängen entziehen – und sich ziehen lassen, wie ein passives, totes und damit gefährliches TIER … Entschuldigung: WIR.

Mir scheint dieses Erkennen von Dingen nun nicht zwanghaft an das ICH gekettet, doch jedwede spätere Zusammenfindung von Mensch, Meinung und Haltung kann in ihrer energetischen Substanz nur über das individuelle Begreifen sowie den Prozess und Diskurs mit dem ICH, dem Selbst überzeugen und -leben, eben auf der Basis einer Wahrhaftigkeit, einer Echtheit der Einzelnen, die dann viribus unitis sich zu einem WIR formt.

Gibt es überhaupt ein WIR? Generiert sich solch ein »echtes« WIR, kann es dann aus seiner Natur heraus nicht eine Formel, einen Beweggrund oder eine Stimme haben? Das WIR ist/sind viele ICH – und dieses schwankt, kämpft, zerrt an sich und den anderen.

Ist das schwach? Nein, dieses stete Wallen gebiert die Kraft dieses WIR, weil es eben nicht ein Mund ist, sondern viele Zungen, Seelen und Leiber besitzt.

Kann das heißen: Das ICH fordert die Gemeinschaft heraus und erfüllt sie im gleichen Moment, das ICH, jedes ICH, in seiner Potenz ist die Stärke des WIR, dessen Sinn, Wahrheit und Wahrhaftigkeit!

Also kann es heißen: Kampf dem WIR! Traut Euch zum ICH! Seid!

… und werdet dann zum WIR?!

Ein Kommentar:

  1. Ich als Individuum fuehle mich wohl in dem WIR. Ich bin froh, Anstoesse aus dem WIR zu bekommen. Zum Beispiel sehe ich mich als ICH in dem WIR, die Menschen, die mit mir im Theater sitzen. Und ICH ziehe waehrend der Veranstaltung meine Schluesse zu Darstellern etc etc. Ein zufaelliges Gespraech mit Zuschauern macht dann aus meinem ICH ein WIR mit Gegensatz oder Einigkeit und somit BIN ICH 🙂

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