Flirtfaktor der Wissenschaft?

Ich war nie gut in Biologie. Und in Chemie schon gar nicht, das hab ich nach der 10. Klasse abgewählt. Aus dem Chemieunterricht sind mir nur zwei Fakten erinnerlich, mit denen unser Lehrer uns verblüfft hat: 1. Der Mensch besteht zu achtzig Prozent aus Wasser. 2. Reiner Materialwert: ungefähr zwei Mark neunzig (meine Schulzeit liegt schon etwas zurück…). Nie jedenfalls hätte ich mir damals träumen lassen, dass ich mich später mal als Dramaturg monatelang mit einem Musical beschäftigen würde, in dem es um die Entschlüsselung der Desoxyribonukleinsäure geht. Des…oxy- was? Egal, nicht so wichtig. Die Abkürzung lautet DNS, auf Englisch: DNA (logisch: -acid statt -säure), und das Zeugs kennen wir ja nun alle hinreichend aus Crossing Jordan, CSI, Navy CIS und ähnlichen neuzeitlichen Krimiserien. Selbst der sonst eher säurearme Münsteraner Tatort arbeitet mit diesem Zauberwort.

Kaum hatten wir in unserer Saisonvorschau angekündigt, dass Bill Murta sein nächstes großes Musical für Bielefeld über ebendiesen Stoff schreiben und Das Molekül nennen würde, meldete sich das Centrum für Biotechnologie der Uni Bielefeld (CeBiTec) bei uns und buchte gleich eine ganze Reihe Eintrittskarten. Daraus entstand ein fruchtbarer Dialog mit Prof. Dr. Volker Wendisch, dem Dekan der Biologischen Fakultät, und Prof. Dr. Olaf Kruse, dem Direktor des CeBiTec, der darin gipfelte, dass wir – das Regieteam und Ensemble von Das Molekül – zu einer Besichtigung des CeBiTec eingeladen wurden.

Mittlerweile sind Monate der Vorbereitung vergangen. Bill hat fertig komponiert, Thomas Winter den Dialogtext übersetzt und mit Ulv Jakobsen die Bühnenkonzeption entworfen. Im Januar kamen alle sechs Gastsolisten für eine Woche nach Bielefeld, um die erste Fassung durchzulesen und, soweit möglich, zu singen. Prof. Kruse war einer von zahlreichen Zuschauern unserer musikalischen Werkschau Anfang April und nahm das Molekül-Textbuch dankenswerterweise mit, um es auf seine begriffliche und wissenschaftliche Korrektheit abzuklopfen. Sein Befund: zu 99 % in Ordnung (Gratulation an Bill Murta und seine Übersetzer für die genaue Recherche!).

Am Dienstag, 9. Mai, ist es dann soweit. Eine Abordnung des Theaters Bielefeld besteigt die schicke Stadtbahn der Linie 4 und fährt mit mehreren Tausend Studentinnen und Studenten zur Uni. Mit von der Partie: Operndirektorin Sabine Schweitzer, Orchesterdirektor Martin Beyer sowie Gesa Fischer und Giovanni Fusarelli vom Wissenschaftsbüro der Bielefeld Marketing GmbH. Die haben längst auch den Ball namens »Molekül« aufgefangen und werden ihn bald zurückspielen …

Bei strahlendem Wetter umrunden wir das ozeanriesengleiche Uni-Zentralgebäude sozusagen außenbords und betreten das CeBiTec, wo uns Prof. Kruse bereits erwartet. Freundliche, helle Räume, funktional und modern gehaltene Treppenhäuser, eine Atmosphäre, die sich vom zettelverklebten Chaos des Hauptgebäudes angenehm abhebt. Und als wir den eigens für uns bereitgestellten Hörsaal betreten, ist es fast, als würde Bill Murtas Musik in meinem Hirn zu einem ihrer zahlreichen Höhepunkte auflaufen: Dort steht sie, leibhaftig (quasi): Die Doppelhelix. Gut einen Meter zwanzig hoch, filigran gearbeitet und mit bunten Kügelchen versehen, schwingt sich die Modellkonstruktion elegant um die eigene Achse drehend in die Höhe. Ebenjene Molekularstruktur der DNA, wonach Rosalind Franklin, James Watson, Francis Crick, Maurice Wilkins und Linus Pauling Anfang der Fünfzigerjahre so händeringend gesucht haben – wie in Das Molekül zu sehen.

Lächelnd lädt uns Prof. Kruse zu einer kleinen Vorlesung ein, deren durchaus lebendige Inhalte widerzugeben mir schlichtweg das Vokabular fehlt. Doch die Aufgaben, die Lehrende und Studierende des CeBiTec sich auf die Fahnen geschrieben haben, sind ehrgeizig und beeindruckend in ihrer Bandbreite und Aktualität sowie in der Reflexion ihres wissenschaftlichen Vorantastens. Kein Schritt, der hier nicht überprüft und auf seine Folgen abgeklopft würde.

Prof. Dr. Jörn Kalinowski führt uns in die heiligen Hallen des Gebäudes, die sicherheitsgeschützten Labors. Und zeigt uns mit einer mitreißenden Mischung aus Kompetenz und Begeisterung die diversen aktuellen Analysatoren, Zentrifugen, Datenträger, kurzum: die Hardware, mit der heute Biotechnologie betrieben wird. Und immer wieder grüßt die DNA … In einem Regal stehen fünfsechs Museumsstücke, wie sie Craig Venter für seine Entschlüsselung des menschlichen Genoms benutzt hat – in den Neunzigern das Neueste vom Neuen und damit natürlich Thema in Das Molekül. Spontan schwirrt mir eine Szene aus Star Wars – Das Erwachen der Macht durch den Kopf, wenn die hübsche Schrottsammlerin Rey mit dem bärigen Ich-bin-beim-Widerstand-eine-große-Nummer-Finn unter starkem Beschuss zu einem schnittigen, kampfbereiten Raumschiff rennt, das vor ihren Augen getroffen und zerstört wird – um sich dann in den zufällig daneben verrottenden Millennium-Falken (Stichwort: museal!) zu retten, der vor nunmehr vierzig Jahren einem sympathischen Großmaul namens Han Solo gehörte und allen imperialen Abfangjägern davonflog …

Zurück ins Heute: Wie so oft im Theater ist kurz vor knapp noch eine wichtige Probe dazwischengekommen, sodass leider nicht alle Molekül-Beteiligten in den Genuss kamen, diesen zauberhaften Betriebsausflug ins CeBiTec mitzumachen. Thomas Klotz, der auf der Bühne neben Craig Venter auch Linus Pauling spielt, eine weitere Koryphäe auf dem Gebiet der Biotechnologie, hat es aber geschafft und zeigt sich beeindruckt vom Fortschritt, den die Dinge genommen haben. Bei einer abschließenden Tasse Kaffee und belegten Schnittchen gehen die Gespräche um »Biotechnologie heute« in die nächste Runde. Dabei kommt die Rede immer mal wieder auf Das Molekül und die Faszination der Materie, die im Musical aus jeder Note klingt: »Das ist so etwas wie Werbung für uns und unsere Arbeit«, freut sich Prof. Kruse. Ganz meinerseits ist die Freude, erstens wegen des so bereichernden Vormittags (herzliches Dankeschön an die Leitung des CeBiTec!) und zweitens, weil ich sogar spontan noch ein Interview fürs Programmheft ergattern kann.

Auf dem Rückweg zur Haltestelle frage ich Gesa und Giovanni nach ihrer Einschätzung vom zunehmenden Chat-, Chart- und Flirtfaktor der Wissenschaft: »Ich glaube, dass wir alle im Grunde unheimlich neugierig sind. Jeder Mensch hat Lust, was Neues zu lernen, was Neues zu wissen, Neues zu erfahren. Nur langweilen darf es ihn nicht. Darum versuchen wir, Menschen die Möglichkeit zu geben, Wissenschaft so zu kommunizieren, dass es unterhaltend ist und spannend und begeisternd, aber nicht trivial.« Schöner könnte man unsere Hoffnungen für Das Molekül nicht zusammenfassen. Und wer weiß, vielleicht begeistere ich mich ja doch noch mal für Biologie. Mit Musik versehen kann sie geradezu sexy sein!

Fotos: Jón Philipp von Linden (Doppelhelix); Sabine Schweitzer (Portrait Thomas Klotz)

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