LIEBE MÜTTER, LIEBE TÖCHTER, LIEBE VÄTER, LIEBE SÖHNE!

Tim Tonndorf (Prinzip Gonzo) // Regisseur von Die Räuber

Die-Raeuber_Inszenierung Tonndorf Mein Erstkontakt mit Schillers Räubern ist von keinerlei heiligem Nebel umgeben. Ich habe das Stück nicht in jungen Jahren gelesen, wo es etwa ein Zündfunke für mein jugendliches Aufbegehren hätte sein können. Ich habe es nicht während meiner Studienzeit gelesen, wo es vielleicht meine Haltung zu gesellschaftspolitischen Themen beeinflusst hätte. Das erste Mal in den Böhmischen Wäldern niedergelassen habe ich mich mit 29 Jahren, vor etwa neun Monaten, als das Theater Bielefeld mich fragte, ob ich mir vorstellen könne, Die Räuber zu inszenieren. Ich denke, es war ein guter Zeitpunkt. Denn zehn Jahre älter als Schiller im Moment der Niederschrift, mit etwas mehr Lebenserfahrung und erheblich weniger Bildung als der Autor, war und ist der Eindruck, den dieser Bewusstseinsstrom von Text auf mich macht, umso größer: Welch schonungsloses Beleuchten der inneren Zersetzung gesellschaftlicher Mikrokosmen! Feine charakterliche Analyse wird bildgewaltiges Wort. Verzweigte Windungen und tiefe Verwüstungen des menschlichen Geistes sind präzise Poesie. Und vor allem: dieser bestechend vielschichtige Umgang mit dem populären Hauptmotiv des Stücks, dem beständig bemühten Buzzword, weswegen Die Räuber Lehrpläne & Leporellos gleichermaßen füllt: »Freiheit«.

Was für ein unpräzises Wort! Inflationär gebraucht in laufenden gesellschaftlichen Debatten, häufig herangezogen als wirkungsmächtiges Label des in seinen Fragestellungen erheblich komplexeren Schiller’schen Gedankenspiels. Denn, um eine (beispielweise bundespräsidiale) Eindimensionalität des Begriffs zu vermeiden, ein glückliches Leben braucht weitere wichtige Ingredienzien, die mit der Freiheit einhergehen sollten: Solidarität. Gerechtigkeit. Empathie. An diesen Ingredienzien mangelt es den meisten Figuren in Schillers Räubern, weshalb die von ihnen geäußerten Freiheitsbegriffe von Schiller selbst immer wieder befragt werden.

Schiller hat kein Freiheitsdrama verfasst, sondern ein Stück über das Drama der Freiheit. Denn mit Freiheit kann Unsinn angestellt werden: Franz von Moor definiert seine Freiheit als uneingeschränktes Herrschen. Die Räuberbande verwechselt Freiheit mit der Abwesenheit von Konsequenzen. Für die ihrer weiblichen Rolle unterworfene Amalia von Edelreich gibt es nur zwei mögliche Orte der Freiheit: die Liebe und den Tod. Und Karl von Moor, der »gute« Bruder, der »Held« des Stückes? Er bringt es bis zum bitteren Ende nicht fertig, eine einzige aus seinem individuellen Selbst geborene Entscheidung zu treffen. Karl ist die unfreieste Figur im ganzen Stück: außer Stande, seinen Platz in der Welt zu finden, hin und her geworfen zwischen extremen Entschlüssen, unfähig, einen Moment tatsächlicher Zufriedenheit festzuhalten, gefangen im Spannungsfeld eines ungelebten Lebens.

DieRaeuber_Inszenierung TonndorfDie Ursache für die charakterlichen Dynamiken Karls und seines Bruders ist
dort zu suchen, wo Schiller Leerstellen gelassen hat: in der Vergangenheit der Familie Moor, den Kinder- und Jugendtagen der beiden Brüder. Eine durch den Vater Maximilian von  Moor offensichtlich vollkommen fehlgeleitete Erziehung voller Ungerechtigkeit und Willkür hat zwei im Leben verlorene Menschen hervorgebracht, ohne Vertrauen zu ihrem individuellen Selbst, schmerzhaft bemüht, Selbstbestimmtheit und ihren Bezug zur Welt zu finden: den vor Verachtung gegen sich und andere vergehenden Franz und den ständig vor irgendeinem Idealbild seiner selbst versagenden Karl. In diese »Schnürbrust« ihres Kindheitsdramas wollen beide ihren Leib zu Beginn des Stücks nicht mehr pressen und beginnen zu handeln. Beide werden zu Despoten, stürzen sich und andere ins Unglück, woraufhin sich die Saat des privaten Dramas zum politischen Handlungsgeflecht auswächst. Franz entwickelt sich dabei zu einem Gewaltherrscher mit Macbeth’schen Zügen, während Karl der psychologisch instabile aber charismatische Führer einer Gruppe von verlorenen Verlierern wird. Diese Durchschnittsmenschen automatisieren unter ihm immer mehr, sind hilflos und unsicher ohne ihn, der doch selbst von Zweifeln zerfressen und von Unsicherheiten überwältigt ist. Auf diesem Nährboden blüht die Gewalt, der zum Schluss fast alle Beteiligten zum Opfer fallen. Als erstes Moritz Spiegelberg, Gründer der Räuberbande, Vater des Karl’schen Gedankens und die freieste Figur im ganzen Stück.

Spiegelberg ist mit sich im Reinen. Seine Motive mögen moralisch verwerflich sein und seine Überheblichkeit überbordend. Aber er ist Herr seiner Wünsche und muss sich niemandem unterwerfen oder sich andere einverleiben, um glücklich zu sein. Seine Stärke liegt in seiner Selbstbestimmtheit, seine Gefährlichkeit in seinem Egoismus und seinen Fähigkeiten zu Verführung und Manipulation. In ihm befragt Schiller sein Hauptmotiv ein weiteres Mal: Die in ihrer Freiheit stärkste Figur hat das entschiedene Ziel, die Welt um sich herum ins Chaos zu stürzen.

Die Freiheit zu einem ureigenen Entschluss ist ein Problem, mit dem ich mich stark identifizieren kann. Theatermachen bedeutet zu einem großen Teil, Entscheidungen zu treffen und Schillers Erstlingswerk verpflichtet in besonderer Weise dazu: Es ist unglaublich lang. Es birgt zahlreiche, im Verhältnis zu den Protagonisten_innen winzige Figuren, die allerdings allesamt handlungsmotivierend sind. Der rote Faden hat diverse Knoten. Handlungsstränge werden geknüpft und fallen gelassen. Figuren lösen sich einfach in Luft auf. Gegen Ende entwickelt die Handlung die Konstruiertheit eines überambitionierten Melodrams. Die Tatsache, dass Schiller zum Zeitpunkt, als er auf der Hohen Karlsschule heimlich an den Räubern schrieb, verschwindend wenig Kontakt zum weiblichen Geschlecht gehabt haben wird, ist in der Figur der Amalia erschreckend evident. Mein Team und ich haben demnach diverse Entscheidungen getroffen: Wir haben uns bemüht, eine Strichfassung zu erarbeiten, die den Rausch der Schiller’schen Sprache transportiert ohne die Handlung unübersichtlich werden zu lassen. Wir haben eine Personage erstellt, die handlungsmotiverende Figuren im Stück belässt, ohne die Schauspieler_innen dieser Figuren neben den Protagonist*innen zu Staffage werden zu lassen. Wir haben das Finale, für das Schiller selbst mehrere Varianten angefertigt hat, so gestaltet, dass es die Schicksale aller Figuren poetisch und konsequent zu Ende erzählt. Wir haben versucht, den wundervoll angelegten Charakter Amalia aus der Schnürbrust der Konventionen von 1776 zu befreien. Zusammengefasst: Wir haben uns das von Schiller an anderer Stelle geforderte Recht auf Gedankenfreiheit sehr zu Herzen genommen. Und ich wünsche Ihnen von Herzen ein lustvolles Theatererlebnis.

Frei sein heißt frei von Zwängen sein. Frei-sein bedeutet aber ursprünglich bei Freunden sein. Die Freiheit ist im Grunde ein Beziehungswort. Man fühlt sich wirklich frei erst in einer gelingenden Beziehung, in einem beglückenden Zusammensein mit anderen. Die Freiheit ist ein Synonym für die gelingende Gemeinschaft. Byung-Chul Han