Warum ich Fußball liebe

Es war Montag, der 23. Mai, gegen 21:45, und mir war schlecht vor Angst. Rückspiel in der Relegation, Eintracht Frankfurt gegen den 1. FC Nürnberg, die 65. Minute, und es stand 0:0. Das hieß Abstieg.
Gute Freunde haben mir angeboten, mich in dieser schweren Zeit zu begleiten, aber es gibt Dinge, die muss man mit seinem Verein alleine durchstehen.
Hyperventilation in der 66. Minute – Gacinovic dribbelt durch die Abwehr der Clubberer, Seferovic lauert am Fünfmeterraum und schiebt den Ball ins Tor. Herzrasen – Das ist nicht gesund, dachte ich, das ist einfach nicht gesund.
Warum tue ich mir das an? Warum ertragen Millionen von Fußballfans das immer wieder, Woche für Woche und Saison für Saison?
Denn, machen wir uns nichts vor, die meiste Zeit leiden wir. Wir stehen oder sitzen in der Kälte eines zugigen Stadions und scharren ungeduldig mit den Füßen. Nein, nicht durch die Mitte! Über links! Aah  …

»Theater ist wie Fußball« – dieses Zitat wird Bertolt Brecht zugeschrieben, dabei hat er das so nicht gesagt. Im Original heißt es: »Man muss ins Theater gehen, wie zu einem Sportsfest.«
Aber natürlich ist es wahr, Theater ist wie Fußball, Analogien gibt es zuhauf. Es gibt Dramen und Helden, im besten Fall eine Katharsis und das letzte Wort hat wie in der griechischen Tragödie immer der Chor – und das sind wir, die Fans. Denn so wie es kein Theater ohne Publikum gibt, wäre das Spiel nichts ohne uns!
Schließlich ertragen wir sie: Die unendlich vielen vergebenen Torchancen, die den vollendeten Torschüssen gegenüber stehen, die vielen trostlosen, ereignisarmen Spielminuten, auf die dann endlich der geniale Moment folgt, die 10 Sekunden Genie und Wahnsinn, nach gefühlten Stunden der Düsternis und Depression.
Dieses gemeinsame Durchleben von Frustration und Euphorie schafft die Verbindung zwischen Spielern und Fans. Diese Verbindung gibt es natürlich in vielen Sportarten. Aber diese Liebe zum Drama?
In welchem anderen Sport wird schon ein verlorenes Spiel als Jahrhundertereignis gefeiert?
Als erste deutsche Mannschaft überhaupt erreichte Eintracht Frankfurt 1960 das Finale des Europapokals der Landesmeister, dem Vorläufer der Champions League.
Das Endspiel fand in Glasgow statt. Die Eintracht wurde spektakulär von Real Madrid, dem damaligen besten Club der Welt (mit Puskàs, di Stefano…), mit 3:7 geschlagen. Das Spiel wird zum besten Europapokalfinale aller Zeiten gekürt, und ist bei Anhängern von Eintracht Frankfurt Kult. Wir haben mit einem Unterschied von vier (!) Toren verloren und es ist Kult!
Selbstverständlich besitze auch ich eine DVD von diesem Spiel …
Ist das normal? Sind wir alle Masochisten?

Und warum überhaupt Eintracht Frankfurt?
Eigentlich keine Frage, viermaliger Pokalsieger, deutscher Meister (Ja! 1959!), Europacup-Sieger 1980. Ein Traditionsverein und der wichtigste und größte in Hessen.
Aber es gab da für mich tatsächlich diesen einen magischen Moment. Nick Hornby beschreibt ihn mit den ersten Sätzen seines Romans Fever Pitch so:

»Ich verliebte mich in den Fußball, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte: plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken an den Schmerz und die Zerrissenheit zu verschwenden, die damit verbunden sein würden.«

Am 16. Mai 1992 machten sich mehr als 10.000 Frankfurter auf den langen Weg nach Rostock, um ihre Eintracht anzufeuern auf dem Weg zur Deutschen Meisterschaft. Ein Sieg am letzten Spieltag und die Eintracht wäre durch.Fan
Zu Tausenden fuhren sie in unzähligen Bussen, Pkws und Zügen in die Stadt an der Ostsee, um die Deutsche Meisterschaft zu erleben. Sogar zwei Sonderzüge, gesponsert von der Eintracht, verließen gegen Mitternacht das Sportfeld in Frankfurt. Alle waren voller Vorfreude.
Aber es lief einfach nicht. Die Spieler hatten Blei in den Beinen, keine Spur mehr vom »Fußball 2000« und seiner vielgerühmten Leichtigkeit. Trotzdem war Eintracht Frankfurt gegen den schon abgestiegenen FC Rostock die bessere Mannschaft. Bis zur 76. Minute. Da verwehrte der Schiedsrichter der Eintracht beim Stand von 1-1 einen glasklaren Elfmeter. Der spätere Torschütze vom 2-1 von Rostock hätte wegen einer klar vereitelten Torchance Rot sehen müssen. Der Schiedsrichter sagte selbst später bei einem Interview, seine Entscheidung sei falsch gewesen und es tue ihm leid.
Diesen Eintrag habe ich im Fanforum der Homepage von Eintracht Frankfurt gefunden:
»Warum?
Warum, oh Fußballgott, standest du damals nicht auf unserer Seite?
Warum?«
Uli Stein legte bei der Heimfahrt im Bus Queen auf: Show must go on.

Das Spiel habe ich bei einem Kollegen gesehen, der damals schon »Premiere“«hatte. Ganz unter uns – mein Leben war zu diesem Zeitpunkt ein Desaster. Es gab wirklich schönere Zeiten … Und dann dieses Drama. Weinende Fans in Frankfurt und Rostock. Ganz große Oper. Für zwei Stunden hatte ich tatsächlich alles andere vergessen. Es gab nur den Moment, es gab nur Gedanken wie: Wird dieser Pass ankommen?
Ein kluger Mensch hat gesagt: Je mehr man sich dem Spiel ausliefert, desto mehr wird man aus der Welt hinausgetragen.
Fußball hatte mich für zwei Stunden aus der Welt getragen. Ich hatte mich verliebt!
Und es »ist mir egal, wo du stehst, egal wohin du gehst, mein Herz schlägt für Eintracht Frankfurt.« Es gab auch jede Menge gute Zeiten mit der Eintracht, nicht nur das Drama! Das Europapokalspiel in Porto, das 6-0 gegen Schalke im Pokal, der Übersteiger von Jan-Aage Fjortoft zum 5-1 gegen Kaiserslautern … Legenden.

Meiner Tochter habe ich einmal gesagt: Du musst zwei Dinge kennen im Leben, Mozart und die Abseitsregel. Jetzt studiert sie Musik und wir gehen sehr gerne zusammen ins Stadion. Fußball ist ein Teil unseres Lebens. Und an dieser Stelle muss ich mich entschuldigen! Entschuldigung, liebe Kollegen und liebe Freunde, für die letzten Wochen im Abstiegskampf. Verzeiht mir meine schlechte Laune, mein Angespanntsein und meine geistigen Abwesenheiten. Meine (für euch) weithergeholten Analogien, das (für euch) Überhöhen des Fußballs, um zu erklären, was die Welt zusammenhält. Aber vielleicht wisst ihr auch nicht, wie es sich anfühlt, an einem Montagmorgen nach einem weiteren desaströsen Spieltag begrüßt zu werden mit: Wird schwer, hm?

Theater wie Fußball funktionieren nicht ohne das Drama, ohne die Niederlage, ohne den Konflikt, ohne das Ungewisse, das Überraschende. Ich leide und lache mit einem Fußballspieler wie mit einer Theaterfigur. Sie erzählen mir Geschichten, die größer sind als der Alltag.

Darum zurück zur Relegation!

Kurz vor dem Hinspiel zu Hause gegen Nürnberg bekam Marco Russ von seinem Arzt mitgeteilt, dass er an einer Tumorerkrankung leidet. Marco Russ ersetzt als Kapitän den verletzten Alex Meier. Keine einfache Aufgabe, einen Fußballgott zu ersetzen, dazu noch in einer völlig verkorksten Saison. Marco Russ ist ein Eigengewächs der Eintracht, kein Fußballlegionär, ein Hessenbub. Ein ruhiger, besonnener Mensch, zuverlässig und engagiert.
Nach jeder Niederlage stellte er sich den Fragen der Reporter und dem Frust der Fans. Er litt, das konnte man sehen, und er nahm jede Niederlage persönlich.
Nach seiner Krebsdiagnose ging er zum Trainer und sagte: Ich will spielen.
Das Spiel war mühsam. Einbetonierte Nürnberger und die Eintracht machte das Spiel. Bis kurz vor der Pause waren die Nürnberger zu keiner einzigen Torchance gekommen. Bei einer eigentlich harmlosen Situation gab es ein Missverständnis in der Frankfurter Abwehr und der Ball prallte von Russ` Bein unhaltbar ins eigene Tor. Zu diesem Zeitpunkt hätte den Nürnbergern zu Hause ein 0-0 gereicht und die Eintracht wäre in die zweite Liga abgestiegen. Durch ein Eigentor ihres Kapitäns, der eigentlich nicht hätte spielen dürfen, wenn es nach seinem Arzt gegangen wäre. Und die Fankurve skandierte: Kämpfen, Marco, kämpfen!
Ja, ihr wisst es: Wir haben es geschafft. Wie, ist eigentlich egal. Die Ergebnisse merke ich mir sowieso nicht. Aber diesen Moment, das Drama, werde ich nicht vergessen.

Denn trotz Kommerz und Korruption, trotz Hooligans und Fanmeilen-Hype – ich liebe Fußball.

Quellen:
eintracht.de
nordhaeuseradler.de
Nick Hornby Fever Pitch