Wir sind die einen und die anderen.

Gastbeitrag von Prof. Dr. Andreas Zick, Universität Bielefeld / Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung

Prof. Dr. Andreas Zick, Universität Bielefeld

»Die Zeiten sind hart, aber modern«, lautet ein italienisches Sprichwort. Die Welt wird schneller und ungemütlicher. Die Risikogesellschaft, wie sie der Soziologe Ulrich Beck beschrieben hat, scheint einer schwer fassbaren und labilen Leistungsgesellschaft zu weichen, deren Hauptaufgabe darin besteht, ständig Schlaglöcher zu stopfen, damit die Mitglieder ihre individuellen Ziele erreichen. Das erschwert die Bestimmung dessen, was ein Wir sein kann. Aber nicht nur von innen wird am Wir gezerrt. Von außen erreichen uns Konflikte, Kriege und wirtschaftliche wie soziale Krisen schneller und härter denn je. Sind wir noch mehr als die Summe der Einzelnen? Ein gemeinsames Wir, eine soziale Identität ist wichtig. Sie bietet eine Befriedigung von Motiven, die wir nicht ohne Gemeinschaft erreichen können. Sie bietet Zugehörigkeit und eine Erklärung der Welt gerade in Zeiten der Unsicherheit. Die anderen sind wichtig, wenn wir die Welt nicht mehr verstehen. Soziale Identitäten bieten sozialen Einfluss und Kontrolle sowie Vertrauen. Sie können einen Selbstwert bereitstellen, der nicht ersetzbar ist. Es wird in der modernen Welt nicht einfacher, gemeinsame Identität auszumachen, die doch gerade jetzt so wichtig für einen Rest an Zusammenhalt ist, den eine demokratische Gesellschaft benötigt. Die gerade jetzt notwendig wäre, um gemeinsame Werte und Regeln zu vermitteln sowie Konflikte zu regulieren und Gewalt abzuwenden.
Die Versuchung ist groß, sich in die eigenen vier Wände zurückzuziehen und abzuschotten. Wenn das mal so einfach wäre. Es gelingt immer schlechter. Viel schlimmer noch, die Abschottungsversuche werden selbst zum Beschleuniger der Radikalisierung. Je romantischer viele Bürgerinnen und Bürger den Rückzug ins Private und die Einrichtung im vermeintlich verdienten Heim betreiben, umso lauter schreien viele, die nicht mitkommen. Und wir sind verwundbar, denn je gemütlicher wir werden, umso beschämender sind die Bilder, mit der die Welt an den Wert- und Moralvorstellungen von Glück kratzt, die wir mit dem Ideal der Demokratie verteidigen. Jede/r kann es schaffen? Tausende von Menschen, die auf der Flucht aus dem Elend nach Europa gestorben sind, schaffen gar nichts mehr. Es gelingt kaum noch, rechtzeitig wegzusehen, wenn neue Elendsbilder zwischen die Bilder vom schönen Leben rutschen. Einige Bürgerinnen und Bürger versuchen es mit aller Mühe, indem sie sich nicht nur abschotten, sondern ihre Beteiligung am Wir ganz abziehen. In unseren Studien zum deutschen Zustand beobachten wir seit Jahren, wie Bürgerinnen und Bürger das Wir im Sinne einer demokratischen Gemeinschaft als faulen Kompromiss betrachten oder ihre Teilnahme kündigen. Welch ein fataler Trugschluss. Sie sind in ihrem Rückzug besonders anfällig für ein Wir, das schnellen Selbstwert schafft. Genau deshalb plärren in kritischen Zeiten Gruppen ein enges, eintöniges, aber heilsversprechendes Wir heraus, das davon lebt, nicht Die zu sein. Je lauter die einen Wir plärren, desto weniger kommen wir daran vorbei. Ein Wir wird vielerorts wie eine radikale Parallelgesellschaft neben der Zivilgesellschaft aufgebaut und aufgeblasen. Und weil wir es nicht geschafft haben, ein konfliktregulierendes Wir aufzubauen, sondern den Verlockungen der Risikogesellschaft anheimgefallen sind, wird es nun ungemütlich und fällt es immer schwerer so zu tun, als hätten wir damit nichts am Hut. Es wird uns kaum gelingen, das auszublenden, was uns umgibt und jene, die laut plärren, stark gemacht hat. Wir sind umgeben von Möglichkeiten, ein ausschließendes, abwertendes und erniedrigendes Wir zu bilden, das nur noch von der Abgrenzung zu einem »Zum-Glück-sind-wir-das-nicht« lebt. Ein Wir, welches Hoffnung aus der Suggestion der Ungleichwertigkeit schöpft. Ein Wir, das verdeckt, wie sehr unser Ideal der Gleichwertigkeit aus der Erfahrung stammt, dass niemand immer gleichwertig ist, aber alle immer ungleichwertig sein können.
Wir sind umgeben von Menschenfeindlichkeit, insbesondere dort, wo Flucht, Asyl und Migration das Leben prägen. Die Menschenfeinde sind laut und machen Theater. Sie flanieren und surfen radikal auf den Straßen und im Netz, bis sich die Normalität verschiebt. Sie bedrohen hinterrücks alle, die nicht ihr Wir sind. Seit nunmehr zwölf Jahren untersuchen wir an der Universität Bielefeld das Syndrom der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Gemeint sind damit alle Facetten der Ungleichwertigkeit, die Gruppen zugeschrieben werden und sich miteinander zu einem Syndrom verbinden. Gemeint sind Stereotype, Vorurteile, Diskriminierungen und Abwertungen von Menschen, nur weil sie Muslime oder Juden, Zugewanderte oder Geflüchtete, Andersaussehende, wohnungs- oder arbeitslose Menschen oder sexuell anders als die Mehrheit orientiert sind. Es sind Facetten der Ungleichwertigkeit, die möglich sind, nur weil Menschen nicht zum Mainstream – einem imaginierten Einheits-Wir – gehören. Wir beobachten seit vielen Jahren, wie tief und fest eine Menschenfeindlichkeit verankert ist, die in den vergangenen Monaten von jenen besonders als Wirklichkeit behauptet wird, die lauthals rufen oder klammheimlich denken: »Wir sind das Volk«.
Diesem marktschreierischen Wir folgt das Die. Die Differenz ist dabei oft nur eine Konstruktion, die dazu dient, das Wir glänzen zu lassen. Ein Drittel der von uns befragten Deutschen meinen, es lebten zu viele Ausländer in Deutschland. Sie meinen dabei oft Deutsche, die im Gegensatz zu ihnen erst später dahin gewandert sind, wo ihre neue Heimat ist. Gar jeder Fünfte möchte am liebsten Muslime direkt dorthin zurückschicken, wo sie oder er sie zu Hause wähnt, ungeachtet jeden Rechts. Aber auch die Abwertung von Gruppen, denen die Wir-Claqueure selbst angehören könnten, ist enorm. Menschen ohne Arbeit und Wohnung werden stigmatisiert und selbst jene, die seelisch krank sind, stehen unter ständiger Bedrohung der Stigmata und Vorurteile, die wir bewusst oder unbewusst produzieren, um sie abzuwerten. Zwar haben sich Projekte und Programme in Bildung und Kultur ausgezahlt und einige Menschenfeindlichkeiten gelangen weniger leicht über normative  Schwellen, aber es ist zugleich zu beobachten, wie sehr in den vergangenen Jahren der Ruf nach einer Dominanz und Vormachtstellung einer deutschen Leitkultur Gehör gefunden hat. Ein radikales und ausschließendes Wir wird zum politischen Programm gemacht und bringt die Demokratie mit ihren etablierten Repräsentanten und Strukturen in Unbeholfenheit. Kommt man den radikalen Flaneuren entgegen, weil der Dialog ein hohes Gut ist, oder rennt man lieber voller Grausen weg?
Die falschen Propheten haben es einfacher: Wir zuerst und dann die anderen, notfalls müssen wir sie abwerten, um das Wir zu erhalten. Erst die Rechte der Etablierten, dann die Frage, wie mit jenen umzugehen ist, die hinzugekommen sind. Über 60 Prozent haben in unserer Studie ZuGleich im letzten Jahr dem Primat der Etabliertenvorrechte zugestimmt. Was ist denn auch daran? Wir waren immer da. Wir leben in einer Gesellschaft, in der alles unübersichtlich geworden ist, umso mehr müssen klare Regeln her: Erst einmal hinten anstellen und den Besitzstand wahren.
Menschenfeindlichkeit ist eine starke Währung, wenn es darum geht, die Räume und Möglichkeiten in einer Gesellschaft eng zu stellen. Populisten wissen dies, und sie sind schlauer darin geworden, ihr enges Wir als Ausweg zu verkaufen. Sie haben sich als Volk geriert und das Land in eine Zerreißprobe getrieben. Sicherlich mögen die radikalen Spaziergänge derjenigen, die sich nach einem einheitlichen Wir sehnen, insbesondere dort sein, wo es trist und eintönig statt bunt und offen ist. Auf der Burg Dunsinane ist es trübe und trist für Macbeth bei aller Machtfülle. Aber die Macht und Dominanz, die das nationale Wir immer wieder beflügeln, scheinen für viele Menschen attraktiv zu sein. Der Hass und die Wut werden durch die eigene Schuld gerade erst beflügelt. Aus Scham und Schuld erwachsen sie. Selbst nachdem in Deutschland bekannt wurde, dass es hier rechtsextremen Terrorismus gibt, der zehn Menschen gezielt getötet hat, und selbst nachdem über 180 Menschen zu Tode kamen, steigen alltägliche Hasstaten, Übergriffe auf jene, die nicht Wir sind. Wir sind geübt darin, Wege zu finden, die Schuld loszuwerden.
Wir sind umgeben von populistischen Zerreißproben. In den vergangenen Jahren haben in der so genannten Mitte der Gesellschaft Menschen ein radikales Wir entwickelt, dass sich aggressiv und mit Gewalt gegen Die Anderen stellt. Die Anderen, das sind die Fremden, die Abweichenden, die nicht Normalen, die Belastenden. Es sind die Unnützen. Die falschen Propheten haben in religiösem Eifer ein goldenes Kalb der Wahrheit geschmolzen und Schwarz und Rot zum Gold ergänzt. Wer nicht daran glaubt, der wird bedroht und auf Listen eingetragen. Spaziergänger mit Bundes- und Landesfahnen, die mit deutschem Liedgut auf den Lippen Fackeln durch die Stadtgesellschaft tragen, um uns zu warnen und Wahrheit zu künden. Und sie propagieren Angst vor Überfremdung und anderem so gut, dass wir versuchen, eine Angst zu therapieren, die den Wutbildern entsprungen ist, statt uns mit der Angst der Opfer zu beschäftigen.
Wir sind umgeben von Wölfen im Schafspelz. Es sind Rechtsextreme, denen das Schafsfell von den Populisten besorgt wird, damit auch sie beim Spaziergang mitlaufen können. Wo wir gehofft haben, dass Verbote und Sicherheitskontrollen, Polizei und Strafe die Demokratie mechanisch sauber halten. So haben sich neue Nischen für jene gebildet, die das Wir von Fremdem säubern möchten. Der Prozess um den Nationalsozialistischen Untergrund erzählt nicht nur vom Tod und von Vernichtungsfantasien eines lebendigen Wir, sondern auch vom Versagen, von der Ignoranz, von der Intoleranz und einem blinden Vertrauen in einen Heimatschutz, den die Extremisten für sich behaupten. Das hat in Deutschland auch jene beflügelt, die in Dummheit und Engstirnigkeit nun für sich die Wahrheit proklamieren und scheinbar Lügen demaskieren. Die Propaganda kann da greifen, wo wir versagt haben. Dem Eifer, eine Gesellschaft durch eine Ökonomie der Kontrolle zu sichern, folgt nun die Ernüchterung, wie sehr der »menschliche Faktor« sich eben nicht durch Rezepte und Mechaniken begrenzen lässt. Zivilgesellschaft braucht Zivilität und die kann nicht durch eine smarte App oder eine Verantwortungsabgabe an einen Kontrollstaat installiert werden. Die Sicherheit und Verantwortung, die die Stadtgesellschaft abgibt, kommt wie ein Bumerang zurück und beflügelt jene, die extreme Lösungen anbieten. Das gilt für Rechtsextreme wie islamistische Gruppen, die die Unsicherheit brauchen, um ihre Herrschaftsziele mit unserer Unterwerfung durchzusetzen. Sicherheit ist keine harte Währung.
Wir müssen schon hingucken, welche Wahrheiten jene verkünden, die Wir rufen. Wenn jene, die sich als Alternative für das Land verstehen, Wahrheiten verkünden, dann kann die Zivilgesellschaft ihr Wissen um das, was Demokratie braucht, nicht leichtfertig opfern. Was aber tun, wenn die falschen Propheten ihr eigenes Völkchen aus Erniedrigten und Beleidigten, Oppositionellen wie Nicht-Wählern zusammenscharren, indem sie auf das Elend selbst verweisen?
Wir sind umgeben von Gewalt, die Elend erzeugt und aus ihr stammt. Die Welt ist nicht mehr in ihren Angeln, weil wir selbst ihre Türen geöffnet oder abgeschafft haben. Der Terror und Extremismus kommt schneller und direkter in die eigene Stube. Das mag stören und unangenehm sein, weil sich die Stube nicht so leicht schließen lässt. Viele schreien nun auch nach einem einheitlichen Wir, welches sich einfach bestimmen lässt per Blut oder simplen Kriterien wie Sprache. Sie schreien, weil sie hoffen, sie könnten draußen die Geschäfte machen und es sich drinnen mit Ihresgleichen gemütlich machen. Rückzug auf die Wartburg zum Sängerkrieg während unten im Dorf die Mörder des NSU verbrennen und Ruhe einkehrt? Zynische Unterhaltung, während hinter dem Berg Kriege mit unseren Waffen wüten, die Menschen in die Flucht treiben. Das wird nicht gehen, wenn wir die Spielzeit des Theaters Bielefeld ernst nehmen. Wer sich in die Spielzeit in Bielefeld begibt, muss damit rechnen, so irritiert wie verwirrt zu werden, dass neue Perspektiven möglich sind, die uns angesichts der Zerreißproben abhanden gekommen sind. Die Kultur hat diese Kraft, weil sie uns stärker als andere zeigen kann, was in der Welt ist und wo wir sind.
Wir sind dabei umgeben von uns selbst. Wer sind wir? Wer sind die anderen? Wer bin ich, wenn ich weiß, wer wir und die anderen sind? Diese Fragen stellt die Spielzeit in Bielefeld und sie sind bitter notwendig, weil sie in einem durchrationalisierten Alltag, der von Populismus zerrissen wird, verstellt werden. Wir sind tolerant, das reicht doch! Über 80 Prozent haben das im letzten Jahr in unserer Studie ZuGleich von sich behauptet. Ebenso viele meinten, sie stünden fremden und unbekannten Menschen offen gegenüber und akzeptieren jeden, wie er ist. Das ist gut, aber nun sind wir umgeben von radikalen Flaneuren, die uns in die Toleranzfalle gelockt haben und vorgeben, die eigentlich Toleranten zu sein. Weil wir uns selbst betrügen? Und die mediale Unterhaltungsindustrie gibt den Populisten Platz, weil sie Quote machen. Wenn Menschen sich in Gemütlichkeit so eingerichtet haben, dass sie nicht mehr sehen, dass sie in des Kaisers neuen Sesseln sitzen, dann tut Bewegung not. Wir erkennen uns vielleicht erst in der Bewegung und im Handeln. Nicht in einer lauten Bewegung, die sich gegen andere richtet und das Erkennen verstellt. Gemeint ist eine Bewegung, die die anderen mitnimmt. Wer wir sind, ist das Ergebnis der Betrachtung eines sich wandelnden Selbst. Das Theater geht mit uns in seinen Spielen dort hin, wo Schatten ist und Licht doch scheinen kann. In der Sommernacht, am Weekend im Paradies und selbst bei den Räubern ist das Andere erkennbar. Wer den Konflikt und die Gewalt versteht, ist gut beraten. Es setzt uns in den Stand, Kontrolle zu gewinnen, wo Gewalt die Kontrolle zerstört.
Dass wir die Guten sind, ist banal. Die Frage nach dem Wir ist ein Frage nach der Identität und dem Selbst und das trachtet danach, gut zu sein, gut dazustehen. Was Wir ist, ist das, was einzigartig ist, aber diese Einzigartigkeit kann sich nicht aus sich selbst heraus bestimmen. Es ist das, was als kontinuierliches Merkmal wahrgenommen wird. Es ist ein Bündel an Merkmalen, das uns wichtig erscheint. Es ist aber auch das, was uns von anderen unterscheidet. Identität braucht Einzigartigkeit, Kohärenz, Kontinuität und Differenz. Die Frage der Unterscheidung des kollektiven Wir von den Anderen lässt sich nutzen.
Die Propaganda der falschen Propheten spielt mit der Wir-Die-Differenz. Sie erzeugt sie und gibt ihr Substrat, sodass wir wissen, warum Die belasten,  ausnutzen, abweichen oder einfach nicht passen und anders sind. In einem Gedicht des Sozialphilosophen Norbert Elias, der gerne in Bielefeld forschte, heißt es: »How strange these people are. How strange I am. How strange we are.« Die Kultur vermag auszudrücken, was ein Wir statt des lauten und ausschließenden Wir ist und sein kann. Das Theater kann uns dort mit hinnehmen, wo ein Wir ist, das die Anderen als uns selbst verstehen lässt. Es ist ein Wir, welches wir entdecken können. Ein Wir, welches wir vergessen haben, weil die anderen ihr Wir davor gesetzt haben. In der Zauberflöte erkannte der Sozialphilosoph Ernst Bloch eine Utopie, die nur die Musik erzeugen kann. Wir können die Anderen werden.

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