Worte! Worte! Worte! – Ein Plädoyer

Kennen Sie Häagen-Dazs? Das ist diese schmackhafte Eisspezialität aus … Dänemark? … Schweden? Wurscht. Raten Sie mal, was der Ausdruck Häagen-Dazs bedeutet:

a) Halten Sie das! (im Sinne von: das Eis)
b) Kalter Schlag (vom Rühren der Eiscreme)
c) es ist der Name eines der Erfinder (den Gebr. Häagen und Fradjöom Dazs)

Na? a), b), oder c)? Falsch! Richtig ist Antwort d) nichts davon. Häagen-Dazs ist ein Fantasie-Begriff, den sich ein findiger US-amerikanischer Unternehmer Anfang der 1960er Jahre hat einfallen lassen, um durch den Umlaut und die aufeinanderfolgenden Konsonanten Assoziationen mit Europa und europäischer Handwerkskunst hervorzurufen. Hat bei mir zumindest voll funktioniert. Ich habe jahrelang konsequent von »dem dänischen Eis« gesprochen. Häagen-Dazs bedeutet rein gar nichts und löst dabei alles Mögliche aus. Genial.

Und damit kommen wir von hochpreisigem Gefriergut zu deutschem Stadttheater … Auch hier ist mir jüngst wieder ein Begriff begegnet, der ins absolute Nichts führt, aber viele Menschen in höchste Wallung geraten lässt: Werktreue. Habe es mal wieder in irgendeiner Kritik irgendeiner Gazette irgendeiner Stadt gelesen: »[…] durchaus werktreu inszeniert!« und »[… ] wie von Shakespeare gewollt!«. Eine ebenso beliebte Frage der Berichterstattenden im Vorfeld ist: »Wird es eine werktreue [meist noch beliebter: klassische] oder eine moderne Inszenierung?«

Werktreue?
Je nach Region und Auflagenstärke ist Werktreue das Rüstzeug für die landläufige kritische Beschreibung von Theater. Auch unter Theatermachenden flammt der Begriff immer mal wieder als sogenannte »Debatte« auf, wobei »Debatte« in diesem Fall – wie so häufig – meint: Es wurde schon alles gesagt, nur noch nicht von allen. Völlig verrückt – denn Werktreue ist ein zutiefst theaterfeindlicher Begriff. Werktreue spricht dem Theater sein Dasein als eigenständige Kunstform ab und weist ihm eine Funktion als »Diener des Autors« (Daniel Kehlmann) zu. Das mag man ja so sehen. Indes ist dies eine recht eingeschränkte Sicht auf das Theater in seinen über 2.500 Jahre bestehenden mannigfaltigen Ausdrucksformen. Es gab und gibt Theaterformen, die kommen gar völlig ohne Autor*innen aus. Wem diene ich dann bloß? Shakespeare war als Autor ein Diener des Theaters und nicht umgekehrt. Goethe wiederum hat als Regisseur erwiesenermaßen erheblich in Stücke fremder Autoren (beispielsweise Shakespeare) eingegriffen in Form
von Strichen und dem Einfügen von Fremdtexten. Können Sie alles nachlesen. »Sacre bleu!«, entfährt es da den selbsternannten Anwält*innen der Autor*innen. »Unser Goethe – ein Vertreter des berüchtigten Regietheaters?!« Doch werden wir konkreter.

Was meint Werktreue? Dem Werk treu bleiben? Inwiefern? Das Werk so inszenieren, wie es der Autor »gewollt« hat? Was heißt das? Und welches Werk überhaupt? Der Text? Ich denke, wir sollten tunlichst zwischen Werk und Text unterscheiden. Der Text ist die Worte, die auf dem Papier stehen – bei Shakespeare in unseren Breiten beispielsweise meist durch einen Übersetzer ins Deutsche gebracht und damit bereits das erste Mal
interpretiert und also verändert. Eine Übersetzung ist immer eine Interpretation. »Au contraire!«, ruft es aus der Ecke der Studienrät*innen: »Eine Übersetzung ordnet sich dem Original unter!« Das mag schon sein, trotzdem ist es eine Ableitung. Da können Sie sich auf den Kopf stellen. Aber weiter im Text.

Der Text
Meint Werktreue also, es möge der Text – nehmen wir Shakespeares Verse – unangetastet bleiben und nicht mit »fremden« Texten »verfälscht« werden? Von Shakespeares Versen existieren verschiedene Versionen und Übertragungen in verschiedenen Ausgaben. Seine Stücke setzen sich aus verschiedenen zeitgenössischen Quellen zusammen und
verarbeiten aktuelle Ereignisse, Schriftstücke, Rivalitäten zwischen Dichtern, Lieder, Sprüche, Wortspiele, persönliche Erlebnisse and so on and so forth. Shakespeares Verse waren und sind beweglich, sie sind im besten Sinne kontingent – ein »Gegenstand im Horizont möglicher Abwandlungen« (Luhmann) – sie atmen durch ihre Unstetigkeit.

Ähnlich verhält es sich beispielsweise mit Texten der griechischen Antike. Die Geschichten der Ilias haben vor allem deshalb die Zeiten überdauert (und ich spreche schon von den 800 Jahren vor ihrer Verschriftlichung durch Homer), weil sie in ständig veränderter Form durch Sänger mündlich vorgetragen und weitergegeben wurden – angepasst an das jeweilige Publikum. Ohne diesen Transport durch stetige Neuerfindung wären diese Geschichten zweifellos irgendwann verloren gegangen.
Das Beharren auf der starren Einhaltung eines sakrosankten Textes ist also eine theaterhistorisch recht neue Erfindung, welche die Lebendigkeit des Theaters eben durch seine kontingente Form der flüchtigen Aufführung (oder des Vortrags) in den Hintergrund drängt. Und nun ans Werk.

Das Werk
Das Werk, würde ich meinen, ist das gesamtkünstlerische Schaffen, welches den Text umgibt und durchdringt. Also die Zeit, der Ort, den Anlass, das Publikum e tutti quanti, wofür er geschrieben wurde. All dies fließt unweigerlich in den Text mit ein und bildet – so würde ich es sehen – das Gesamt-Werk. All dies ist nicht reproduzierbar.
Beispiel Shakespeare:
William Shakespeare hat, wie alle seine Kollegen, für eine unbarmherzige
Unterhaltungsmaschinerie Theater gemacht. Besucherzahlen, Verkaufszahlen,
Entertainment auf allen Ebenen: Sex, Crime, Violence, War, Love, Peace – alles musste richtig dosiert sein, damit die Menschen wiederkamen. Außerdem gab es eine quasi göttliche Staatsmacht, die ihr tödlich zensorisches Auge auf alles richtete – inmitten religiöser Spaltungen, Verfolgungen und Gefahren an jeder Ecke. Will sagen, Shakespeare hat nicht, wie man sich das gerne vorstellen mag, allein im Kämmerlein gesessen und
einfach Philosophie, Humanismus und Welthaltigkeit aus dem Ärmel geschüttelt. Es galt, Erwartungen, Spielpläne und das Globe Theatre zu erfüllen. Vielleicht gibt es die Hexen in Macbeth vornehmlich deshalb, weil König Jakob I. ein Faible für Okkultismus hatte. Vielleicht gibt es den Geist von Hamlets Vater, weil Geistererscheinungen ein gern gesehenes Spektakel waren. Vielleicht gibt es das scheinbar versöhnliche Ende in Romeo
und Julia, weil es dem Zeitgeist und dem Willen des elisabethanischen Publikums am besten entsprach. Bei Shakespeare mehr als bei den meisten Autoren gilt: Wir wissen es nicht.
Was wir wissen ist, dass Shakespeare alte Kostüme recycelt hat, die so aufgemotzt wurden, dass sie dem entsprachen, was sich die Zuschauer damals schon unter »historischen Kostümen« (also von noch früher) vorstellten. Des weiteren wurde tagsüber unter freiem Himmel gespielt bei durchgehendem Fressen und Saufen während der Aufführung, mit Prügeleien, Zwischenrufen, Kommentaren, Wurfgeschossen und Sprechchören im Publikum. Die elisabethanische Aufführungstradition unterscheidet sich (leider, möchte ich sagen) fundamental von allem, was wir heute mit einem Theaterbesuch assoziieren.

Romeo und Julia (Inszenierung: Prinzip Gonzo)
Foto © Philipp Ottendörfer

Das Klassische
Das alles ausblendend wird heute also (oft verkürzt) nach einer »klassischen«
Inszenierung gefragt. Was meint nun »klassisch«? »Historische« Kostüme? Sowas existiert nicht bzw. ist immer eine Ableitung (siehe oben). Verzicht auf »moderne« Requisiten? Warum eigentlich? Jede Epoche hat die ihr zur Verfügung stehenden Mittel eifrig auf ihren Bühnen verwendet. Keine technischen »Mätzchen«? Warum eigentlich nicht? Weil das nicht ins Theater gehört? Wo steht das geschrieben? In welchem lex theatrum? Im attischen Theater wurde der deus ex machina mit Hilfe eines sichtbaren Krans (!) auf die
Bühne geschwenkt, weil das ein effektvolles Spektakel abgab. Sowohl die attischen Choregen als auch die elisabethanischen Theatertruppen (sowie vermutlich jede Epoche dazwischen) haben alles, aber auch alles, was ihnen an technischen Errungenschaften zur Verfügung standen (Pyrotechnik, Musik, Rauch, falsches Blut, dressierte Tiere, Maschinen et cetera) in ihr Theater gepackt. Weil sie’s konnten. Weil’s effektiv war. Weil’s Spaß machte. Wenn Shakespeare die Möglichkeit einer Videoprojektion gehabt hätte, um für die Hexen-Szenen im Macbeth ein möglichst fulminantes Bild zu schaffen – »Plug thee in that apparatus!« hätte er gejauchzt! Und überhaupt: Wer vermag da eine Grenze zu ziehen? Warum sollen »historische« Kostüme zu einer »klassischen« Inszenierung gehören, nicht aber »historisches« Licht (also maximal Kerzen)? Oder eine »historische« Einrichtung (also Holzbänke und Stehplätze)? Oder ein »historisches« Publikum (also je nach Epoche z.B. keine Frauen)? Sie stellen fest, dass es sich hier um absolut beliebige Forderungen handelt, die der puren Willkür unterworfen bleiben müssen.

Das Wollen
Kommen wir schließlich dazu, was der Autor wohl »gewollt« haben mag. Was könnte das nun wieder bedeuten? Seine eigenen »politischen« oder »gesellschaftlichen« Ansichten? Davon wissen wir häufig – z.B. bei Shakespeare – nichts. Absolut gar nichts. Von der Person William Shakespeare sind keinerlei politische oder religiöse oder persönliche oder sonstige Ansichten überliefert. Uns bleibt, seine Stücke aufmerksam zu lesen. Und dahingehend kommt es immer wieder zu merkwürdigen Zuschreibungen aller Art: »Romeo und Julia ist das Synonym für romantische Liebe.« Hat Shakespeare das gewollt? Ist der eines verregneten englischen Morgens hingegangen und hat gesagt: »Fürderhin gedenke ich ein Werk über die romantische Liebe in Verfassung zu nehmen!«? Sehen wir mal davon ab, dass Shakespeare den Begriff der Romantik (eine bekanntermaßen urdeutsche Erfindung) noch gar nicht kannte. Befasst sich der neugierige Mensch auch nur oberflächlich mit Shakespeare und seinem Werk, so stellt er bald fest, dass Shakespeare unter anderem deshalb unsterblich ist, weil er sich eben nicht in jene Kategorien zwängen lässt, die wir mit unserem eingeschränkten Instrumentarium während unseres kurzen Auftritts auf der Weltbühne zu beschreiben vermögen. Und am wenigsten wissen wir, was Will selbst gewollt hat. Tun wir nicht so, als wüssten wir es.

Sehen Sie mir bitte den polemischen Tonfall nach. Aber ich bin immer wieder erstaunt, wie Menschen glauben, zu wissen, was andere Menschen wohl gewollt haben wollen. Wann weiß ich denn wirklich, was ein anderer wirklich will? Ist es nicht einer der Hauptkonflikte des Dramas, dass Menschen eben nicht wissen/verstehen/erkennen, was andere Menschen wollen? Oder was sie selbst wollen? Was will ich denn eigentlich? Nur zur Klärung: Ich spreche nicht von zeitgenössischen Autor*innen. Es geht mir keineswegs
darum, Theaterautor*innen pauschal die Hoheit über ihr künstlerisches Schaffen abzuerkennen. Allerdings wird der Werktreue-Begriff auch eher bei Shakespeare bemüht als bei Sibylle Berg. Und Shakespeare hat exakt für das Publikum des elisabethanischen Zeitalters geschrieben. Es scheint mir eine Aufgabe von heutigen Theaterschaffenden zu sein, für ein heutiges Publikum zu inszenieren.

tl;dr
Fassen wir zusammen. Unter Werktreue könnte man also

a) eine Unantastbarkeit des geschriebenen Wortes
b) eine Nachahmung der Aufführungspraxis der jeweiligen Entstehungszeit
c) eine exakte Umsetzung der verbrieften Intentionen des Autors

verstehen.

Ich hoffe, es ist mir gelungen darzulegen, dass – aus meiner Sicht – Punkt

a) eine Modeerscheinung unter Ausblendung eines Großteiles der Theaterhistorie sowie des Wesens von Theater als Ort der kontingenten Aufführung
b) eine faktische Unmöglichkeit (und Unsinnigkeit)
c) eine ebenso faktische Unmöglichkeit sowie eine ziemlich realitätsferne Bevormundung

ist.

Ausleitung
Ich finde Theater zu beschreiben zuweilen äußerst schwierig (ähnlich wie Theater zu machen). Wie bei jedem Kunstwerk bleibt zunächst alles immer subjektiv. Zudem begibt man sich im Theater meist in eine Öffentlichkeit, was die Sache nicht unbedingt einfacher macht. Man möchte Haltung zeigen, man möchte nicht unbelesen oder dumm erscheinen, man versucht, sich diesem seltsamen Gegenstand Theater immer wieder aufs Neue irgendwie anzunähern. Ich finde es großartig, dass so viele Menschen es immer wieder (auch gemeinsam) versuchen.

Allerdings ist der Begriff Werktreue hierbei nicht hilfreich. Im Gegenteil. Er negiert zu viel von dem, was Theater ausmacht. Er ist eine komplett hohle Phrase ohne konkreten Signifikat, welche lediglich die persönliche Sehnsucht nach einer beliebigen Aufführungspraxis beschreibt, mit der man selbst sozialisiert worden ist. Er ist symptomatisch für das Beschwören einer »guten alten Zeit«, einem Damals, wo »alles [sogar das Theater] besser« war, wo’s an Heiligabend noch geschneit hat, wo man den Schokokuss noch anders nennen durfte, wo jede*r noch wusste, wo der eigene Platz war und wo man nicht dieses lästige * in allen Texten mitlesen musste.

Häufig wird Werktreue mit »spießbürgerlich«, »konservativ« oder »museal« in Verbindung gebracht. Ich würde noch einen Schritt weiter gehen. Die undifferenzierte Verwendung dieses Begriffs stellt für mich den ersten Schritt einer gewaltsamen Aneignung von Autoren und Werken unter Ausblendung verschiedener Kontexte dar. Als Deutscher könne er sagen, er sei stolz auf unseren (also seinen) Schiller – so sprach der damalige Bundespräsident Horst Köhler im Jahr 2005. Auch von unserem Shakespeare habe ich schon gehört. Mein Aischylos (Eischülos? Äschülos? Äskülos? Eis-chielos? – da geht’s nämlich schon los …)! Diese ganze germanozentristische Sicht auf Theater entbehrt nicht nur jeglichen Wissens über dessen Entwicklung und Möglichkeiten – sie rückt aus meiner Sicht auch bedenklich nahe an gewisse Forderungen, wie Theater zu machen sei, damit es zur Identifikation mit dem eigenen Land anrege.

Aber so meint es das Gros der Menschen, die nach der Werktreue rufen, natürlich nicht. Für viele scheint der Begriff eine Art Anker zu sein auf der stürmischen See des Theater- Erlebens im wiederholten Versuch, die eigenen Gefühle auszudrücken. Ich möchte dazu anregen, durch lebendige Gespräche über Theater der journalistischen Reduktion auf Plattitüden einen sinnstiftenden Austausch entgegenzusetzen, sich leidenschaftlich zu streiten und vielleicht den eigenen Blick zu erweitern. Mit einem Werktreue-Fetischisten über die Schönheit von Theater zu sprechen ist wie mit einem Metzger über die Schönheit des Iberico-Schweins zu sprechen. Vermeiden wir Worte, die an der Zerstörung dessen arbeiten, was sie zu beschreiben suchen.

Herzlichst,
Tim Tonndorf

Nachtrag
An dieser Stelle hätte ein passendes Zitat von Reuben Mattus, dem Gründer von Häagen-Dazs, dem ganzen einen runden Abschluss gegeben. Aber der Mann hat nichts Weltbewegendes gesagt. Er hat nur leckeres Eis gemacht.

3 Kommentare:

  1. Lieber Tim!

    Schöner Text.
    Du hast mit so vielen Punkten verdammt recht und dennoch glaube ich, liegt das Problem, das gewisse Teile des Publikums mit dem so genannten (nicht werktreuen) Regietheater haben, nicht so sehr der in der Praxis, wie mit Texten umgegangen wird, sondern in dessen Vermittlung.

    Manch eineR fühlt sich ganz einfach nur verarscht, weil wir in unseren Ankündigungen und Programmheften schreiben: „BIEDERMANN UND DIE BRANDSTIFTER von Max Frisch“ und zu sehen und zu hören bekommen die Menschen vor der Rampe aber 35% Frisch, 10% Lacan, 5% Derrida und 50% Tagebücher der Regisseurin. Das ist ein wenig so, als würde man einen VW Bus bestellen und bekommt bei der Abholung aber einen Manta mit dem Hinweis, der Motor sei aber aus einem Bulli.
    Ich gebe zu, der Vergleich hinkt etwas, aber worauf ich hinauswill ist, dass die Erwartungen, die wir mit unserer Außenwirkung erzeugen und die Ergebnisse, die wir liefern, für das Publikum häufig auseinandergehen.

    Du hast natürlich völlig recht, dass die meisten bekannten Texte, nur die Jahrhunderte überlebt haben, gerade weil sie adaptiert und modernisiert wurden, aber wurde das in den meisten Fällen eben für die Öffentlichkeit transparent gemacht.
    Bert Brecht nahm als Grundlage seiner DREIGROSCHENOPER John Gays THE BEGGAR´S OPERA und gab seiner Bearbeitung einen neuen Titel. Er ging nicht mit dem Namen seines Vorgängers hausieren.
    Der olle Goethe suchte sich seinen FAUST aus dutzenden Quellen zusammen und schrieb danach seinen Namen drunter.
    Und auch der Großteil von Shakespeares Werken fußt auf Novellen seiner Zeit, die der Will frech umschrieb und unter seinem Namen auf die Bretter brachte.
    Das ist eine Verfahrensweise, wie sie heute nach wie vor im Film gang und gäbe ist. „John Carpenters VAMPIRE“, „Francis Ford Coppolas APOCALYPSE NOW“, „Stanley Kubricks A CLOCKWORK ORANGE“. Die Leute stehen Schlange für „DEN neuen Wes Anderson“.
    Es ist doch auffallend, dass in der Filmbranche der Urheberschaft des Drehbuchs weniger Aufmerksamkeit zugewendet wird als der Arbeit der Regie – obwohl doch der Vorgang, dass hier ein Text ausgelegt und inszeniert wird, genau der gleiche ist, wie bei unserer Theaterarbeit.
    Ich habe jedenfalls noch nie den Satz gehört: „Na, da hat der Dominik Graf sich aber wenig an das Drehbuch gehalten“. (Vielleicht bei Romanadaptionen, aber das ist ein anderes Thema.)
    Diese ungleiche Wertung in Film und Theater hat meines Erachtens einfach mit der offensiven Vermittlung dessen zu tun, was die Arbeit der Regie ausmacht. Wie wäre es denn, wenn wir Theaterleute das auch einmal praktizieren würden? „Sebastian Baumgartens DIE RÄUBER“, „Jette Steckels DER STURM“ oder „Tim Tonndorfs MOBY DICK“? Würde das nicht viel eher unsere moderne Verarbeitung des Textes beschreiben als der allerorten praktizierte Etikettenschwindel? Wäre doch mal eine Maßnahme. Zudem würde es allen Leuten den Wind aus den Segeln nehmen, die nach wie vor glauben, ein Drama sei ein Backrezept für Apfelstrudel.

    Mit besten Grüßen aus Oldenburg,
    Jonas

  2. Tim Tonndorf hat ganz Recht, ist aber leider unfair gegenüber StudienrätInnen. Ich habe jedenfalls in der Schule gelernt, dass keine Übersetzung das Interpretieren vermeiden kann und wie extrem schwer es ist, eine neutrale Nacherzählung oder Zusammenfassung hinzukriegen, ohne in die Sichtweise des Ausgangstexts zu einzugreifen. Wer sich nach einem Theaterbesuch „mehr Werktreue“ wünscht, sagt damit auch, dass der Zugang zur Perspektive der Inszenierung nicht gelang . Um Neues zu verstehen, müssen Menschen an Bekanntes anknüpfen können.

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