Virtual Reality

Ich befinde mich auf dem Dach eines Hochhauses in einer mir unbekannten Gegend. Bei mir sind drei Menschen, die ich nicht kenne, und neben uns steht ein Tisch mit Waffen, Munition und Verbandszeug. Wir rüsten uns aus, nehmen die Treppe hinunter und lassen das Chaos auf uns hereinbrechen: Es dauert keine zehn Sekunden, bis die erste Welle an Zombies auf uns zustürmt und wir um unser Leben kämpfen. Das Spiel beginnt.

In meiner Freizeit bin ich viele: Als »The Kid« habe ich die Ruinen von Caelondia zusammengefügt, als Faith Conners habe ich Informationen übermittelt, die dem totalitären Überwachungsstaat entgehen sollten. In Gestalt von Corvo Attano deckte ich eine Verschwörung gegen die kaiserliche Familie auf und als Commander Shepard erkundete ich fremde Planeten und musste obendrauf noch das Universum vor einer Invasion retten. Meine vielen AlterEgos haben es wirklich nicht einfach.

Ich sehe Videospiele nicht als Fluchtmöglichkeit vor der Realität. Ich glaube nicht, dass es mir auf Dauer in den virtuellen Welten gefallen würde, die entweder von Zombies, dystopischen Regimes, Cyborgs und anderen Monströsitäten terrorisiert werden. Für mich haben Videospiele einen ähnlichen Stellenwert wie ein Kinobesuch oder eine Serie, die man wöchentlich am Fernseher verfolgt. Mit dem Unterschied, dass ich aktiv in die Geschichte involviert bin und die Handlung manchmal sogar mitbestimmen kann. Wenn ich wissen will, wie es weiter geht, muss ich Aufgaben lösen und mit Geschicklichkeit Hindernisse und Gegner aus dem Weg schaffen.

Neben Strategiespielen, Jump ’n’ Run und First-Person-Shootern habe ich auch Zeit in Online-Games verbracht, deren Spielwelt von tausenden Spielern gleichzeitig bevölkert wird. Da ich mir immer einen internationalen Server aussuchte, fand ich es spannend, Menschen aus unterschiedlichen Ländern zu treffen, die ich sonst nicht kennenlernen könnte. Obwohl man nur als Avatar miteinander agiert, ist es trotzdem möglich, Beziehungen zu knüpfen. Allein dadurch, wie sich Menschen im Spiel verhalten, merkt man schnell, ob man sie sympathisch findet und ein Team mit ihnen bilden kann oder nicht.

Durch meinen Hintergrund als Gamerin war ich sehr gespannt auf das Stück Die Netzwelt, dessen Handlung sich mit einer verbesserten Form des Internets beschäftigt. In der Netzwelt, die der User in einer anderen Gestalt betritt, gibt es Büros, Schulen, Universitäten, in denen man sich online aufhalten kann. Es ist in die Normalität übergegangen, dass man sein Leben in einer virtuellen Welt bestreitet.

Mit Freude stelle ich fest, dass Mareike Mikat, die das Stück inszeniert, ebenfalls gerne zockt und deswegen die Vorteile und Schwächen einer solchen Netzwelt erkennt. Mareike begann ähnlich wie ich mit Jump ’n’ Run und Aufbauspielen und fand heraus, dass Videospiele etwas sind, das sie mit ihrem Bruder verbindet. Als ihr Bruder dann das Online-Gaming entdeckte, zog er sie mit in diese Welt. Das gab ihnen die Möglichkeit, sich öfter zu treffen, als es in der realen Welt möglich wäre. Neben dem Adrenalinrausch und dem befriedigenden Gefühl, gerade einen Zombie mit einem Kopfschuss erlöst zu haben, bietet Online-Gaming für Mareike noch einen ganz anderen Aspekt, wie sie mir erzählt: »Man kann wieder nach Hause gehen. Egal wo ich bin, wenn ich meinen PC anmache und auf meine Spiele-Plattform gehe, dann nehme ich ein Stück zuhause mit. Man trifft dort die gleichen Leute, egal in welcher Stadt man ist oder in welchem Land. Man hat einen Ort, an dem man sich zuhause fühlt.« Dadurch, dass Mareike in unterschiedlichen Städten arbeitet und viel unterwegs ist, sieht sie ihren Bruder real nicht sehr oft, trifft ihn aber online beim Spielen.

Auch die Anonymität, die man online besitzt, sieht Mareike als einen großen Reiz an virtuellen Welten. Menschen können ihr Leben nochmal anders anfangen und Entscheidungen anders treffen. Für andere Menschen ist es wiederum eine Plattform der Äußerungen, in der sie ihrem Rededrang neuen Raum geben können, den sie in der Realität nicht bekommen. In der Netzwelt gibt es einen besonderen Raum, das Refugium, in dem es vor allem um sinnliche Erfahrungen geht, die in der Realität nicht mehr ausgelebt werden können. Die Menschen haben keine Empfindungen mehr. Diese bietet das Refugium ihnen, und das macht süchtig. Hier fühlen sich die Menschen frei und sind losgelöst von physischen und moralischen Beschränkungen. Das Refugium verspricht eine Welt ohne Konsequenzen, in der es keine unmoralischen oder illegalen Taten gibt. Das ist die Grundproblematik von Die Netzwelt: Dürfen wir alle Fantasien in einer Netzwelt ausleben und hat das wirklich keine Konsequenzen, wie einige Figuren des Dramas behaupten? Eine klare Antwort auf diese Frage finden wir beide nicht.

Mareike ist bewusst, dass nicht nur das Refugium, sondern auch unsere heutige Onlinewelt eine Gefahr darstellen kann, wenn man sich darin verliert. »Es kommt immer darauf an, wie die Leute es anwenden. Selbst Facebook kann gefährlich sein, weil Menschen es mit der Realität verwechseln und ihr Leben nur noch auf Facebook stattfindet.« Kurzfristig mag man zwar das Gefühl haben, man hätte eine gute Unterhaltung geführt, aber langfristig erfüllt es diese Funktion nicht und die sozialen Kontakte verkümmern. Es gibt Leute, die darauf hängen bleiben und Leute, die es beherrschen. Der Umgang mit den digitalen Medien ist keine Selbstverständlichkeit, sondern muss gelernt werden.

Es gibt ein Ereignis, das mich im Zusammenhang mit Online-Games sehr geprägt hat, weil ich in der Realität bis jetzt nichts Vergleichbares erlebt habe. Ich war noch Studierende (mit einer Menge Freizeit) und begrüßte gerade einen befreundeten Spieler aus den USA über Skype, den ich schon lange kannte, aber aufgrund der Distanz noch nie persönlich getroffen hatte. Seine Antwort erwischte mich kalt: »My Daddy died today«, schrieb er mir zurück. Er war zu diesem Zeitpunkt 21Jahre alt, 2 Jahre jünger als ich, und sein Vater war an einem Herzinfarkt gestorben. Ich hätte ihn in diesem Moment gerne umarmt, aber das ging natürlich nicht. Reden wollte er nicht, sondern einfach nur spielen, abgelenkt werden. Wir trommelten ein paar Leute zusammen und loggten uns ein, damit er wenigsten für ein paar Augenblicke nicht daran denken musste, dass er gerade seinen Vater verloren hatte, bis er soweit war, darüber reden zu können. Noch heute sind wir befreundet und unterhalten uns regelmäßig bei Skype über Spiele, Politik und den ganz alltäglichen Wahnsinn. Die Spielwelt und ihre virtuellen Gestalten mögen zwar nicht echt sein, aber das bedeutet nicht, dass auch die Beziehungen in ihr nicht real sind.

 

Fotos © Philipp Ottendörfer