Eine dicke Frau, die italienisch singt

Von Florentina Follmer

Ich erinnere mich noch sehr genau an meinen ersten Besuch in der Oper. Zusammen mit einer Freundin schaute ich mir Charlotte Salomon von Komponist Marc-André Dalbavie im Theater Bielefeld an. Keine von uns hatte zuvor eine Oper gesehen, weswegen wir auf wilde Spekulationen angewiesen waren. Was ich erwartet habe? Ganz ehrlich (und auch auf die Gefahr hin, mich als absoluter Opernlaie zu outen): eine korpulente Frau, die in einem prunkvollen Kleid so laut eine italienische Arie schmettert, dass im Hintergrund einige Gläser zerplatzen. Das Bühnensetting ist einem großen Ballsaal im Stil der italienischen Renaissance nachempfunden. Im Publikum sitzen derweil elegant gekleidete ältere Herrschaften, die das Geschehen auf der Bühne fasziniert durch Operngläser beobachten, dabei wie selbstverständlich der fremden Sprache folgen können und nebenbei kultivierte Kommentare über das dargebotene Stück, den Komponisten und den Sänger austauschen.

Okay, das klingt jetzt vielleicht übertrieben, aber so in etwa stellten wir uns eine Oper vor. Dementsprechend aufgeregt waren wir und begannen direkt nach dem Kauf der Tickets, den Abend so akribisch zu planen wie einen Banküberfall. Am wichtigsten natürlich: das Outfit. Sabrina verriet mir bereits vorher, dass sie sich bei einem Besuch im Stadttheater grundsätzlich immer davor fürchte, unpassend gekleidet zu sein. Um einem solchen Fauxpas vorzubeugen, diskutierten wir in stundenlangen WhatsApp-Gesprächen unsere Kleidungswahl: Reicht ein Blazer oder sollte es doch das schicke schwarze Kleid sein? Trägst du hohe oder flache Schuhe? Roter Lippenstift oder doch besser gar keiner? Wir beratschlagten sogar darüber, in der Pause Wein zu trinken (obwohl wir beide eigentlich keinen Wein mögen), und ob wir nicht schnell nochmal im Lexikon ein paar musikalische Fachbegriffe nachschlagen sollten, damit wir nicht vollkommen dumm dastanden, sollte uns jemand nach der Vorstellung aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen darauf ansprechen.

Schlussendlich hat mir der Abend in der Oper dann vor allem gezeigt, dass es sich lohnt, manch klischeehafte Erwartung zu hinterfragen und sich mit eigenen Augen und Ohren ein Bild von etwas zu machen. Was ich da nämlich auf der Bühne erleben konnte, war so anders, als meine vorgefertigten Vorstellungen von einer Oper, dass es sich schwer in Worte fassen lässt. Abgesehen davon, dass keiner der Darsteller dick war, überraschten und begeisterten mich vor allem Bühne, Kostüme und Maske. Die Figuren sahen aus wie gemalt: harte, kontrastreich geschminkte Gesichter und mit groben Pinselstrichen bemalte Kostüme und Perücken, ein Konzept, wie ich es zuvor noch nie gesehen habe. Besonders unerwartet waren für mich auch die Videoeinspielungen, die, zum Teil live mit Kameras auf der Bühne gedreht, die Darsteller überlebensgroß auf einen hauchdünnen Gazevorhang und auf die hintere Bühnenwand projizierten und auf diese Weise beeindruckend lebensechte Gemälde erschufen. Ich gebe zu, dass ich in meiner Freizeit eigentlich keine Opernmusik höre und deswegen zu Anfang skeptisch war, da ich mit Oper hauptsächlich unverständlich hohen und überartikulierten Gesang assoziierte. Aber meine Bedenken waren unbegründet: Es war vor allem die Intensität des Gesamterlebnisses, des Zusammenspiels aus der Musik, der Live-Performance der Sänger und des Orchesters, das für mich praktisch greifbar direkt vor meinen Augen spielte, das mich nachhaltig beeindruckte und mir Gänsehautmomente bescherte. Okay, die Lieder wurden zwar tatsächlich zum großen Teil auf Französisch gesungen und das klägliche Bisschen, das ich von dieser Sprache noch aus dem Schulunterricht beherrsche, beschränkt sich auf Floskeln wie »Mein Name ist« und »Wie geht es dir?«. Ich konnte der Handlung aber trotzdem aufgrund der gut sichtbaren Übertitel ohne Schwierigkeiten folgen. Der Abend war also so ganz anders, als erwartet.

Als ich knapp einen Monat später mein Praktikum in der Abteilung für Marketing und Vertrieb im Theater Bielefeld begann und einigen meiner Kollegen von meinem kleinen Opernabenteuer berichtete, war das Gelächter erstmal groß, obwohl mir versichert wurde, dass ich bestimmt nicht die Einzige bin, die bei Oper zuerst an dicke Frauen, die auf Italienisch singen, denkt. Auch bezüglich des Theaters hätte man schon die lustigsten Sachen gehört. Das glaubte ich sofort! Auch ich habe gleich ganz viele verschiedene Dinge im Kopf, wenn ich an Theater denke. Da fallen mir nicht nur Stücke ein, die ich in verschiedenen Theatern gesehen habe, sondern auch solche, in denen ich in meiner Schulzeit selbst mitgespielt habe. Meine erste Rolle und mein großer Durchbruch im Kindergarten bei Hänsel und Gretel (ich spielte den überaus wichtigen Ofen), die Aufregung vor der Premiere von Ein Sommernachtstraum auf dem Gymnasium, harte Probentage, Teamarbeit beim Kostümwechsel hinter der Bühne und gemeinsam Pizza essen. Und (bedingt durch Deutsch- und Englischunterricht) eine lange Zeit Goethe, Schiller und schnauzbärtige, Pumphosen tragende Männer, die leidenschaftlich mit einem Totenkopf diskutieren. Das alles und mehr verbinde ich mit dem Theater. Während meines zweimonatigen Praktikums durfte ich viele Menschen kennenlernen, die hier unermüdlich und mit Leidenschaft für ihr gemeinsames Ziel arbeiten und die mit dem Theater bestimmt ebenso viele und noch mehr persönliche Erlebnisse und Erfahrungen verbinden (einen kleinen Eindruck davon, was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Theaters bei ihrer Arbeit motiviert, findet ihr hier).

Aber was assoziieren eigentlich Menschen außerhalb der Theaterwelt mit dem Theater? Geistert vielleicht auch hier das ein oder andere Klischee in den Köpfen herum, wie bei mir, wenn ich »Oper« höre? Um das herauszufinden habe ich mich auf den weiten Weg gemacht und unter meinen Freunden rumgefragt, was denn so das erste ist, was ihnen in den Sinn kommt, wenn sie Theater hören. Dabei habe ich viel darüber erfahren, was sie mit dem Theater verbinden und bin nicht nur auf unterschiedliche Erwartungen und Assoziationen sowie das ein oder andere Klischee, sondern auch auf schöne und lustige Erfahrungen im und mit dem Theater gestoßen. Ihre Antworten habe ich Euch hier als Stimmcollage zusammengestellt:

Das Fazit, das ich aus meinem Abend in der Oper, aber auch aus den vielen anderen unterschiedlichen Eindrücken, die ich während meines Praktikums sammeln konnte, gezogen habe, ist, dass Theater ein Medium mit vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten und unglaublich vielen Facetten ist. Es kann aktuelle Themen aufgreifen, Klassiker neu entdecken, ungewöhnliche Formen ausprobieren. Manche Klischees können sich für einen selbst bestätigen, andere wiederum nicht. Manches ist so, wie man es sich vorgestellt hat, anderes vielleicht total überraschend. Die ein oder andere Befürchtung bewahrheitet sich oder aber wird komplett über den Haufen geworfen.
Theater kann viel und – das habe ich auch bei meiner Umfrage bemerkt – Theater bedeutet für jeden etwas anderes. Man kann und muss natürlich nicht alles mögen, aber es lohnt sich auf jeden Fall, sich einfach mal ins Publikum zu setzen, denn wer weiß – vielleicht ergeht es einem dann ja wie mir in der Oper und man bekommt etwas zu sehen, was so ganz anders ist, als erwartet.

Was denkt Ihr als erstes, wenn Ihr Theater hört? Spukt vielleicht auch bei Euch noch das ein oder andere Klischee im Kopf herum? Lasst es uns wissen!

2 Kommentare:

  1. Hi,
    mir ging es ähnlich wie Florentina Follmer. Ich bin inzwischen 65 Jahre alt und habe Operetten auf dem Sofa sitzend, gemeinsam mit meinen Eltern erlebt. Für mich war es eine mehr oder weniger romantisch verkitschte Veranstaltung, die ich ertragen musste, weil zu dieser Zeit nur 3 (!) Fernsehprogramme zur Auswahl standen. Konnte ich den Operetten noch die „schön“ gesungenen Lieder abgewinnen, kam ich mit den Opern gar nicht zurecht. Ich erkannte sie zwar als ernsthaft, und sie weckten auch meine Neugier, jedoch verstand ich kaum worum es ging, selbst wenn sie nicht auf Italienisch, sondern auf Deutsch dargeboten wurden. Ich wandte mich genervt ab. Somit teile ich voll die Perspektive von Florentina Follmer

    Meine gravierend veränderte Lebenssituation vor 10 Jahren veranlasste mich, vom Land (Vlotho) nach Bielefeld zu ziehen. Hier kann ich, nunmehr als Rentner, das bunte kulturelle Leben einer größeren Stadt (Großstadt?) genießen. Und Bielefeld hat wirklich viel zu bieten! Bei meinen ersten Besuchen in den freien Theatern der Stadt war ich von Anfang an wieder fasziniert von dieser besonderen Kunstform, die ich zuletzt zu meiner Schulzeit erlebt hatte. Schließlich erlebte ich dann mehrere Musicals und Schauspiele im Stadttheater. Was für eine Steigerung! 2012 wagte ich mich auch zum ersten Mal in eine Oper. („Rigoletto“/Giuseppe Verdi) Ich war sofort gebannt von Bühnenbild, Orchester, Kostümen sowie der schauspielerischen Leistung und den Gesangsstimmen der Darsteller. Und vor allem: Ich verstand alles, dank des Fließtextes oberhalb der Bühne!!! Die Dramatik ergriff mich und wühlte mich emotional auf. Alle Opern, die ich seit dem erlebte, ergriffen mich viel intensiver als mancher „Thriller“ im TV. Es ist eben die Lebendigkeit und das Zusammenspiel aller künstlerischen Komponenten, wie Orchester, Dramaturgie, Bühnenbild, Kostüme und Darsteller, die mich immer wieder überwältigen. Mir wurde bewusst, wieviel ich im Leben (beruflich bedingt) an erlebenswerter Kunst verpasst hatte. Ich hoffe, ich habe noch lange Zeit meinen Kulturhunger zu stillen. Vielleicht geht es einigen Menschen auch wie mir, dass sie erst im Alter Zeit und Muße für diese Kunstform finden. Schade finde ich ferner, dass sich einige Ältere mit den „modernen“ Inszenierungen so schwer tun, die sie oft als nicht-klassisch beklagen. Viele der sogenannten klassischen Stücke, Schauspiele wie Opern, waren zu ihrer Zeit jedoch politisch und gesellschaftlich aufrührerisch und galten als skandalös und revolutionär. Die enthaltenen Botschaften versuchen die Künstler heute gerade durch einen Bezug zur Gegenwart zu verdeutlichen, was dann von einigen heutzutage wiederum als skandalös wahrgenommen wird. Ich kann nur sagen: Ziel erreicht!
    Fest steht leider auch, dass nach meiner Schätzung nur etwa 10 % junge Menschen unter den Operngästen sind. Allen jungen Menschen wünsche ich Florentina Follmers Mut. Ihnen wird sich eine neue, aufregende Welt auftun.

    1. Herzlichen Dank für diese schöne Rückmeldung – garantiert geht es vielen so, dass die Wertschätzung für die Oper erst später kommt. Man muss halt erst über den eigenen Schatten springen, um zu merken, wie vielseitig Oper sein kann. Florentina hat das getan und wir freuen uns sehr, dass sie mit ihrer offenen Art in den letzten Wochen Teil unseres Teams war. Vielleicht inspiriert ihr Beitrag ja noch ein paar jüngere Besucher, sich in eine Oper zu trauen. Gerade der moderne Zugriff kann den Einstieg für junges Publikum schließlich erleichtern.
      Beste Grüße aus dem Theater Bielefeld!

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