Unwirklich schön sehen die Darsteller in der Oper Charlotte Salomon aus, im wahrsten Sinne des Wortes wie gemalt. Sie bewegen sich fast traumwandlerisch hinter der dünnen Gaze, auf der sie überlebensgroß vervielfacht werden. Die Handlung ist nicht chronologisch, Versatzstück aus Charlottes Erinnerung reiht sich an Versatzstück, überlappt, ergänzt, widerspricht und lässt einen wabernden Erinnerungsraum entstehen, in dem sich lebendig gewordene Gemälde bewegen.
Die historische Figur, die junge Künstlerin Charlotte, verarbeitete ihre traumatische Familiengeschichte und die Machtergreifung der Nationalsozialisten in über 1300 Gouachen, die sie in einem Singespiel mit dem Titel Leben? Oder Theater? bündelte. Ein bewegendes, subjektives Zeugnis, das trotz ihrer Ermordung in Auschwitz bewahrt werden konnte. Marc-André Dalbavie komponierte auf Basis dieses Werkes eine Oper (Libretto von Barbara Honigmann), deren Deutsche Erstaufführung uns seit Wochen in allen Abteilungen beschäftigt.
Wir Theaterleute sehen ja nun viel Theater, sind dadurch häufig unsere größten Kritiker und nehmen vielerlei auch einfach als gegeben hin. Manchmal sind wir ein schwer zu begeisterndes Publikum. Ich wurde diesmal verzaubert, ein Grund dafür waren die gemalten Figuren, die seit den Endproben unser Theater bevölkern und mir wieder vor Augen geführt haben, mit welcher Kunstfertigkeit die Kollegen in einer imponierenden Gemeinschaftsleistung ihre Arbeit machen.
Früh sei klar gewesen, dass im Inszenierungskonzept eine sehr enge Zusammenarbeit von Regie (Mizgin Bilmen), Kostüm- (Alexander Djurkov Hotter) und Bühnenbild (Cleo Niemeyer) sowie Video (Malte Jehmlich) notwendig sein würde, erzählt mir Kostümbildner Alexander. Ihm sei das entgegen gekommen, da es für ihn in seiner Arbeitsweise stets darum gehe, keine Kostüme, sondern Charaktere zu entwerfen. Alexander war schon bei der Uraufführung von Dalbavies Oper in Salzburg 2014 dabei und freute sich, nun einen eigenen Zugriff auf die Oper wagen zu können. Die Besonderheit an der Oper ist die doppelte Charlotte. Eine von einer Schauspielerin gegebene Charlotte Salomon führt durch ihre Erinnerungswelt, in welcher ihr Alter Ego – wie in ihren Gouachen heißt dieses Alter Ego Charlotte Kann – die erinnerten Situationen aktiv erlebt. In der Uraufführung in Salzburg wurden die beiden Charlottes einander auch äußerlich stark angenähert. Das wollte Alexander nicht und entschied sich, die beiden Ebenen auch visuell deutlich zu trennen. Es musste eine visuelle Sprache für die Erinnerungsebene gefunden werden. Am Schluss sei die Lösung viel einfacher gewesen als gedacht, lacht Alexander. »Es geht um Charlottes Erinnerungen und die Oper basiert auf einem Erinnerungswerk mit über 1300 Gemälden, in dem das Leben einer Frau erzählt wird. Wenn es also um diese Erinnerungen geht und die Figuren der Oper in Charlottes Gemälden vorhanden sind, dann lassen wir sie eben aus diesen Gemälden heraustreten!« Mit dieser Idee wurde nun auch die Form, die Charlotte Salomon für ihre Erinnerungsbewahrung wählte, ganz ernst genommen. Ihre Gouachen sind ein eigenwilliges Werk, die Bilder sind mit Texten kombiniert und mit Notizen versehen, die die passende Musik vorschlagen. Erinnerung ist schon für Charlotte multimedial. Eine Adaption ihrer Erinnerungen in Form einer Oper ist nur konsequent.
Von Alexanders Idee von gemalten Figuren bis zu den eigentlichen Kostümen war es kein einfacher Weg, der von ihm und unseren Werkstätten viel forderte. »Damit kann man nicht an jedes Haus gehen«, unterstreicht er. Das Konzept, die Figuren wie gemalt aussehen zu lassen, war ein Experiment, auf das sich alle Beteiligten einlassen mussten. Alexander fuhr früh nach Amsterdam, um Charlottes Bilder im Original betrachten zu können. Um ihren Strich zu studieren, ein Gefühl für die Haptik und die Farbe der Werke zu bekommen. Ihre Art, Gouache auf das Papier zu bringen, sollte in den Kostümen schließlich aufgenommen werden. Dafür wollte er auch eigene Gewohnheiten beiseitelegen, Farben und Formen neu denken. Er entschied sich deshalb, seine Figurinen mit Gouache zu malen und so Charlottes Umgang mit der Farbe noch besser zu verstehen. Einerseits sollte der expressionistische Strich, mit dem die Figuren auf der Bühne »gemalt« sind, an den Charlottes erinnern, andererseits die eigene Perspektive doch deutlich werden. Wie Charlotte es vorgemacht hatte, war Subjektivität durchaus erwünscht. Die Figuren sollten noch viel mehr als bloße Adaptionen von Charlottes Portraits sein. Der subjektive Blick des Regieteams interpretierte ihre Erinnerungen, verwandelte und ergänzte die Figuren, lud sie symbolisch auf und das schon in Kostüm und Maske. Sie hatten sich schließlich dazu entschieden, nicht an das von Nazis ermordete jüdische Mädchen Charlotte zu erinnern, das zufällig Künstlerin war und dessen Kunst man wegen seines Schicksals rezipiert, sondern an die Künstlerin Charlotte Salomon mit einer von Traumata geprägten Familiengeschichte, deren Werk voller Erinnerungen glücklicherweise überlebt hat.
Deshalb hieß es nun also versuchen: Was funktioniert, was ist möglich, bezahlbar, in der Kürze der Zeit zu schaffen, was sieht am Ende im Zusammenspiel mit Bühnenbild und Video noch aus und wie sollten diese ungewöhnlichen Kreationen eigentlich geleuchtet werden? … 14 Kostüme mussten geschneidert werden. Charlotte hatte ihren Figuren sehr eindeutig Farben zugeteilt, Alexander übernahm diese Strategie. Um die Farben – etwa Ultramarinblau für Charlotte Kann – genau zu treffen, wurde Färber Jan Diekmann hinzugezogen. Die gefärbten Stoffe landeten anschließend in unserer Schneiderei, die fertigen Kostüme wurden in einem letzten Schritt von der Kostümmalerin Modei Koopmann bemalt.
Ein Prozess, der wenig Raum für Fehler zuließ, und dessen Ergebnis kaum vorhersehbar war. Die Kostüme erhielten durch die aufgetragene Farbe nicht nur die Optik eines Gemäldes, sondern veränderten sich auch in der Festigkeit. Diese gewisse Statik sollte sich auch in der Maske fortsetzen, war Grundlage für die Choreografie. Die Werkstatt entwickelte die Idee, Perücken dafür aus Hanf zu fertigen und mit Latex zu überziehen, so dass sie sich anschließend wie Haut und Kostüme bemalen ließen.
Das alles ist eine ganze Menge Konzept, Raum zum Scheitern hätte es genug gegeben. Doch die Illusion geht auf, die einzelnen Bausteine fügen sich zusammen. Die Inszenierung ist ein Versuch eines Totaltheaters in Charlottes Sinne – alles greift ineinander, um ihr Leben zu erzählen.
Fotos: Inszenierung © Bettina Stöß, Entwicklung Paulinka in Slideshow © Alexander Djurkov Hotter