Der Dramaturg Daniel Westen (DW) im Gespräch mit dem Bühnenbildner Wolf Gutjahr (WG)
DW Das Arbeitsfeld Bühnenbild impliziert die bewusste Entscheidung gegen das Subjekt und damit für das Objekt. Deine Genese als Bühnenbildner betrachtend: Woher kommt deine Begeisterung für das Ausstatten von Theaterwerken?
WG Meine Initialzündung war ein Besuch – im Alter von 10 Jahren – des »kinderkompatiblen« Werkes Arabella von Richard Strauss. Eine schwierige Inszenierung – das Gros der Besetzung war zu alt und zu fett, aber der Bühnenbildner Jürgen Rose hat drei Bühnenbilder auf die Bretter gestellt, die phänomenal waren. Der Zusammenhang zwischen dem, was ich auf der Bühne sah, und der Atmosphäre im Saal war der Auslöser für den Wunsch: Es muss irgendwie Theater sein. In München folgte dann der übliche Lauf: Schüler-Abo, Theaterbesuche, Opernstatisterie usw. Der Wunsch, Kunst zu machen, stieß innerhalb der Familie allerdings auf wenig Begeisterung. Ich sollte zunächst etwas »Anständiges« lernen – es folgte eine Schreinerlehre –, um danach die Finanzierung für ein künstlerisches Studium zu erhalten. Nach Hospitanzen und Assistenzen (u. a. in Bochum und Amsterdam) ging es weiter zum Studium; Johannes Schütz überredete mich, hierfür die damals neu gegründete Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, eine Schwesterinstitution des ZKM (Zentrum für Kunst und Medientechnologie) zu wählen. Viele Erfahrungen habe ich jedoch eher im praktischen Arbeitsfeld gemacht, sehr lehrreich, aber auch zuweilen schmerzhafter als im Rahmen des Studiums. Warum nicht der Mensch, sondern das Objekt? Immer wieder werde ich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, zu inszenieren. Die klare Antwort ist: Nein. Ich genieße es, Räume zu entwickeln, Welten zu entwerfen, an denen sich andere abarbeiten. Und diesen Prozess während der Produktionsphase zu begleiten – dies ist die Welt, auf die man sich geeinigt hat –, das ist meine Lust am Theater.
DW Vor dem Hintergrund deiner umfangreichen Vita darf man von einer bestimmten Ästhetik sprechen, von einem Entwicklungsweg, der sich durchaus auf dem Höhepunkt, aber noch lange nicht am Schluss befindet. Du kreierst, abseits eines Realismus oder gar Naturalismus, ganz eigene Räume, Welten, die sich aus den Werken generieren. Wie würdest du deinen »ästhetischen« Werdegang beschreiben?
WG Neben den Freiheiten, die mich u. a. Johannes Schütz lehrte, ist es in erster Linie die Verpflichtung zur gedanklichen Präzision, die mir meine Dramaturgiedozentin Theresia Birkenhauer vermittelte. Die inhaltliche Argumentation des zu visualisierenden Gegenstandes, das dramaturgische Lesen eines Werkes und das Grundvertrauen in selbiges sind aus meiner Sicht Schlüssel des Verständnisses – so sehe ich auch meine Hauptaufgabe als Hochschullehrer. Hieraus entwickelte sich eine meiner grundlegenden Arbeitsweisen; die Parametrisierung von Texten: Das Entdecken von Strukturen und Systemen, die ein Gerüst ermöglichen, auf dem ich beginnen kann, Entwürfe zu erarbeiten. Natürlich haben mich viele Kollegen beeinflusst, bei deren Bühnenbildern ich denke: Ja, da steht es doch, das ist es, worum ich ringe; z. B. der grandiose Bert Neumann, Anna Viebrock, Christoph Ernst, Romeo Castellucci u. a. Kurz, Dinge interessieren mich nur dann, wenn sie Bestandteil des Systems sind, also baue ich Systeme.
DW Wie am Theater Bielefeld für Jochen Biganzolis Inszenierung des Don Carlo.
WG Ein räumliches Kräfteverhältnis, bestimmte räumliche Strukturen, die eine klare Kausalität erzeugen, die aus einem Material heraus Zwang auf die Figuren ausüben, woran sich diese dann abarbeiten. Folge ist z. B. das Ausbleiben von Umbauten. Das heißt nicht, dass die Räume statisch sind, sondern im Gegenteil: Sie müssen viel können, Überraschungsmomente bieten.
DW Das, was du als System beschreibst offeriert einen Kosmos, der sich – besonders hinsichtlich des Don Carlo – weg vom Bebildern der diversen Orte der klaren narrativen Struktur, hin zu einem sich drehenden Weltenraum bewegt. Hier stellen sich die Fragen, wie man mit dem semihistorischen Kontext der Handlung umgeht und wie die Zwänge und Bedarfe der Figuren, die in den Abgründen ihres Systems unentrinnbar scheitern, sich im Raum widerspiegeln. Wie findet sich der Weg zum Kubus, zum System eines Überwürfels?
WG Meine Ausgangsbasis ist die Situation, in der ich mich heute als Mensch befinde. Und das ist auch die Ausgangsbasis des Zuschauers. Die Schwierigkeit beim Carlo ist, dass ich beim Zuschauer dieses historische Bild der Figur vorfinde; eine gesetzte Erwartungshaltung, die aber nur Folie ist – keine historische, eher die Schiller’sche. Ein Irrtum der Sehgewohnheiten. Wir können nicht nachvollziehen, wie beispielsweise die Betrachter im 16. Jahrhundert ein ein Bild (z. B. von Philipp) rezipiert haben und was es auslöste – das waren Blicke, die den unseren auf heutige Medienfiguren wie Madonna o. ä. entsprächen. Suchen wir das heutige Betrachten, spielt in der Regel die historische Folie keine Rolle mehr, es sei denn, wir wollen im Brecht’schen Sinne Abstand halten. Das führt zu unserem Kubus, weg von der illusionistischen Dekoration, hin zu einer gewissen Abstraktion, zur Suche nach Tiefe; man könnte sagen, ein archäologischer Vorgang, bei dem wir uns bis zu den Figuren hinuntergraben. Heißt: Ich mache es zu meinem Konflikt und damit zum Konflikt der Zuschauer – und ich bitte unsere Zuschauer, diesen Schritt mit mir, mit uns zu riskieren. Theater ist das Verführen und gleichzeitig das An- und Reinsaugen des Zuschauers in neue Welten, das Zeigen von Welten, eine Reise wagend. Wenn das gelingt, hat man etwas richtig gemacht; aber es gelingt nicht immer.
DW Bei Don Carlo nimmst du den Zuschauer gleich zu Beginn mit, aber vorerst als Betrachter einer Außenwelt, als Voyeur auf ein geschlossenes System. Ich zeige euch die Welt von außen, um dann sukzessive die Vorgänge im Innern dieses Phänomens zu lüften, euch Teil dieser noch fremden Welt werden zu lassen. Vier Seiten des Würfels sind elementar, Spiegel- bzw. Negativbilder der jeweils gegenüberliegenden, wobei zum einen der dunkle Wunschraum, der »Carlo-Raum«, der mit seinem Vorhang und den Projektionen stilistisch nahezu einer Brechtbühne ähnelt, und zum anderen der helle »Rex-Raum«, die Realität, die real-gesellschaftlichen Abgründe, im Zentrum der Vorgänge stehen. Die anderen Seiten bewirken in ihrer Gleichheit die Idee von Bewegung, Wände mit Treppen, schlicht, beinahe frei von Behauptung, unbesetzt.
WG Der Wunsch von Jochen war eine Tribüne für 60 Personen, allein der Dramaturgie des Werkes geschuldet. Während der Auseinandersetzung mit dem Werk kam ich auf das Thema, welches mit dieser Tribüne kohäriert: Das Problem der Titelfigur ist das Zuschauen, das nicht handeln dürfen – und wenn sie etwas tut, geht es schnell schief. So wurde das Grundthema des Würfels der Zuschauerraum des Don Carlo – ich beobachte als Zuschauer jemanden, der zuschaut. Blicke ich mich um, sehe ich Konstruktion: Kabel, Stützen, Gebälk etc., weil Carlo nur an der Innenseite seiner Welt interessiert ist, die Außenseite ist das Problem der Anderen. Der zweite Schritt war, den Raum logistisch in den Griff zu bekommen, die partiellen Komödienstrukturen berücksichtigend: viele Treppen, viele Türen, die Unsicherheit des Systems befördernd, unwissend, wer wann kommt, wer wieviel weiß usw. Auf der Suche nach der Opposition, den repräsentierenden Elementen, generierte sich die Rückseite, der »Rex-Raum«, der eher das öffentliche Ist beschreibt, kurz: hell gegen dunkel.
DW Vereinfacht, ausgehend von Carlos »Wunschbox« oder dem Zuschauerraum, vielleicht auch Traumbild, Illusion, Utopie, wieder Illusion, Realität: Ist das Ziel ein durch reine Betrachtung relativ leichtes Verständnis dieser Welt, das sich durch die klare Positionierung wie Abgrenzung der Räume sich dem Zuschauer erschließen mag?
WG Ich glaube, das ist wichtig, andernfalls wäre man mit einem schwer verständlichen oder gar nicht lesbaren Zeichen konfrontiert, in welchem sich der Zuschauer schnell allein gelassen fühlt. Die Definition der Welten ist sehr deutlich, wenn man sich auf das ästhetische Konstrukt in seiner Materialisierung einlässt. Wichtig für die Lesbarkeit ist diese Anfangsdrehung des geschlossenen Würfels, der Außenwelt, denn hieraus entwickelt sich der ganze Abend. Der Würfel spuckt die Personen aus – aus der Welt heraus, nicht von außen. Es gibt nur diese Welt, diese vier Seiten, aber ihr werdet überrascht sein, was diese vier Seiten plötzlich können – bis der Würfel sich am Ende wieder schließt.
DW Trotz dieser vielleicht martialisch wirkenden Struktur offenbart der Würfel Illusion, überhöht sogar das theatrale Moment. Ich denke hier an das Mittel des Filmes, der Projektion – mal farbig, mal schwarz, schwankend zwischen Traum, Utopie, Illusion und sogar die Idee des Supranaturalistischen in Form des Großinquisitors einbindend; die Illusion von der Entmenschlichung des körperlichen Seins, des Allwissenden, Übermächtigen.
WG Der schwarze Schleier ist hierfür Grundlage; er ist einerseits wichtig für die Hermetik des Systems, anderseits bildet er ein lesbares Zeichen, das sowohl vermeintlich positive, aber eben auch gesetzt negative Dinge generiert. Medienkritik, mediale Abbilder und Vergrößerungen, aufgrund von bewussten Abgrenzungen zu genauen, vorgesetzten Definitionen (Perspektive IS usw.), haben uns schlussendlich zu diesem »Überwesen« des Großinquisitors geführt, denn jenes, was die Strukturen von außen am Laufen hält, lässt sich nicht mehr über eine Person definieren oder verstehen. So ist der Großinquisitor in erster Linie eine Stimme, die – wie auch in Verdis Musik – übermächtig ist, unter der alle anderen zu kleinen Personen werden und bei deren Erscheinen sich die Perspektiven und Maßstäbe verändern. Der Zuschauer muss ihn sich selbst in die heutige Zeit ziehen, ihn für sich definieren. Eine bewusste Setzung hätte den Abend in eine vorformulierte und erklärende Definition gezogen, die es auf jeden Fall zu vermeiden gilt. Und dieses mediale Abbild verknüpft sich wiederum mit der Lebenswelt oder Erfahrungswelt heutiger Sehgewohnheiten; ein weiteres Moment, um den Zuschauer abzuholen und auf die eigene Reise mitzunehmen.
DW Kann man sich als Zuschauer mit der Erfahrungswelt des Jetzt von der Darstellung des Großinquisitors durch das und mit dem Medium Film lösen, heißt: Ich erkenne die Setzung der Figur als genuin filmisches Element an, als dystopische Fiktion, die sich nun auftut – die religiös besetzte Suggestion, die konditionierte Masse, die über das Wahrnehmen von nicht greifbaren Regeln funktioniert; und dies über den Großinquisitor, der sich als Mensch entzieht und sich hinter dem fantastisch anmutenden Mittel der Projektion entkörpert. Löst das Bühnenbild sich also vollends aus dem Jetzt oder ist die Verortung konkret?
WG Vielleicht kommen wir mit dem Begriff der Heterotopie weiter. Diese Box ist natürlich in einen klaren Kontext gesetzt; das Kino-Moment mag sich hierüber gut kommunizieren. Kino kann etwas, wo wir im Theater nicht die Chance haben – und auch nicht haben sollten –, nämlich die Entkoppelung von der eigenen Realität, so dass ich meine eigene Realität durch das vollständige Einlassen auf die Fiktion sukzessive vergesse. In Don Carlo funktioniert dies über den Kontext der Reaktionen der Figuren auf der Bühne. Die Wirkung des Großinquisitors löst sich über das Entsetzen seiner Rezeption aus.
DW Individuen und Masse vergessen beim Erscheinen des Überwesens also auch ihre »echte« Realität, die Fiktion, die suggerierte Wahrheit wird als eigene und damit echte erkannt.
WG Zudem sehe ich diese Projektion als einen Perspektivwechsel; ich sehe sie mit den Augen der Menschen auf der Bühne, die gerade mit diesem Moment konfrontiert sind.
DW Der Großinquisitor stellt sich als einzige Figur in deinem (geschlossenen) System dar, die sowohl nach innen als auch nach außen kommuniziert. Bspw. im Gegensatz zu Carlo, der vereinfacht gesagt aus dem System herausspricht, oder Filippo der auf die Welt blickt – beide scheitern an und in ihren Perspektiven. Vor dem Hintergrund ist dem Inquisitor, dieser Illusionsfigur, mehr gegeben, eine Omnipräsenz, die sich in der Wahrnehmung vervielfältigt und verändert. Somit wirft er in der Betrachtung mehr Fragen auf, man erfährt nichts über die Person dahinter, er entzieht sich einer Charakterisierung, eines Persönlichkeitsbildes.
WG In der Diskussion im Vorfeld ergab sich die Frage, ob der Großinquisitor an die Projektion gebunden ist oder ob er auch andere Möglichkeiten des Erscheinens hat. Auch die pragmatische Überlegung, wie diese Figur spielerisch zu gestalten ist, führte uns nebst den ästhetischen Gedanken immer wieder auf die Leinwand zurück: Das System Großinquisitor ist größer als das System, das wir mit dem Kubus verhandeln. Und dann funktioniert es wieder über die Perspektivwechsel, also wann steht wer dem Inquisitor von welcher Position aus gegenüber.
DW Blicken wir noch einmal in das System, in das offensichtliche Konstrukt, das auch dramaturgisch wie eine semipermeable Membran funktioniert – die Vorgänge scheinen durchlässig, keiner ist trotz des hermetischen Charakters wirklich allein oder gar intim mit sich. Das ist das Prinzip des spanischen Hofes, aber eben auch der heutigen Gesellschaft: Die Vermutung, alles findet hinter verschlossenen Türen statt, ist gesetzt, doch es sickern immer wertvolle, heikle Informationen oder Halbwahrheiten durch, die den Lauf der gesellschaftlichen Entwicklung oder auch nur deren Resonanz negativ beeinflussen.
WG Und genau das braucht es, um den Blick auf die Figuren zu stärken. Die Konstruktion, dieses halb Durchlässige, Offene, ermöglicht den Darstellern, der Regie, Aspekte der Figuren zu zeigen, die dann dem Zuschauer tieferen Einblick in die jeweilige Person geben.
DW Noch einmal weg vom Carlo und auch zugleich vor dem Hintergrund unserer Produktion: Gibt es noch »Ängste« vor der Reaktion des Zuschauers auf die Bühne, gerade wenn man sagt, ich bewege mich weg vom Abbild der Realität und hin zur Erschaffung einer neuen, einer anders befragbaren wie rezipierbaren? Gibt es noch Fragezeichen?
WG Ja, solche Fragezeichen muss es geben, sonst führt das schnell zum Realitäts- und schlimmer Wahrheits- oder Wahrhaftigkeitsverlust! Andererseits wird man gern gefragt: »Was denken Sie sich dabei?«, wo ich nur antworten kann: »Was denken Sie sich denn dabei?«
Es geht doch immer darum, zuschauerisches Selbstbewusstsein zu entwickeln oder freizulegen. Schlussendlich kommt es auf den Betrachter an, was er in der Bühne für sich und seine Ideenwelt entdeckt – das ist das Ziel.
Fotos © Wolf Gutjahr