Austernpirat, Robbenfänger, Goldsucher in Alaska, Kriegskorrespondent, Schweinezüchter, Bestsellerautor – das sind nur einige der zahlreichen Berufe, die Jack London im Verlauf seines Lebens ausübte. Seine Biografie ist schillernd und liest sich selbst wie einer seiner Abenteuerromane, für die er auf eigene Erfahrungen zurückgriff.
Sein Buch Der Seewolf (1904), für das er seine Zeit als Robbenfänger nutzte, konnte ich kaum aus der Hand legen: Der schiffbrüchige Ästhet Humphrey van Weyden gerät in die Fänge des brutalen Kapitäns Wolf Larsen, der ihn an Bord seines Robbenschoners »Ghost« versklavt und in eine Welt zwingt, die Humphrey so fremd wie bedrohlich erscheint. Die raue Männergesellschaft der Matrosen, das blutige Schlachten der Robbenjagd, die ungebremste Gewalt der See und nicht zuletzt die selbstgerechte Willkür Larsens, der ohne Zögern Männer dem Tod ausliefert, erschüttern Humphrey in seinen Grundfesten. Will er überleben, muss er seine schöngeistigen Werte abstreifen und Teil der Mannschaft werden. Als dann die schiffbrüchige Maud Brewster an Bord kommt, steht Humphrey vor einem Dilemma: Soll er für Maud einstehen und mit ihr unter Einsatz seines Lebens in einem Beiboot flüchten oder soll er in der relativen Sicherheit, die er sich auf der »Ghost« erkämpft hat, bleiben und weiter unter Wolf Larsen dienen? Er entscheidet sich für ersteres und provoziert damit Larsens schäumende Wut – zwischen den Männern kommt es zu einem Konflikt, den nur einer der beiden überleben kann.
Diesen Roman, in dem brachiale Naturgewalt und Menschengewalt eine Atmosphäre der Gefahr erzeugen, bringt das Theater Bielefeld im TAM auf die Bühne. Ich frage mich allerdings, wie man dieses Buch, das auf den tosenden Weiten des Pazifiks spielt, glaubwürdig auf die Bühne übertragen kann. Dramaturgin Franziska Betz hat den Roman bearbeitet und daraus die Bühnenfassung erstellt. Sie hat den Text aus dem Buch zusammengestrichen, gekürzt und auf verschiedene Sprechrollen verteilt.
An einem Donnerstag Abend sitze ich gespannt im Saal des Theaters am Alten Markt und erlebe den Seewolf auf der Bühne. Die Ausstattung sagt ganz klar: Das ist ein Schiff, auf dem die Handlung spielt. Ich sehe ein schwankendes Deck, die Takelage und einen Mast mit Segel. Ich erlebe den Kampf der Seemänner gegen die rauen Elemente, windgepeitscht, von Regen und Meerwasser durchtränkt. Ich höre fast ausschließlich Texte aus dem Roman. Aber aus dem Ich-Erzähler des Romans ist nun eine Erzählung mit vielen Stimmen geworden. Humphrey gibt Teile der Erzählung an andere Figuren ab, die selbst einerseits klar definierte Rollen übernehmen (ich lerne die Matrosen Johnson und Leach sowie den Schiffskoch Mugridge kennen), andererseits aber auch als pars pro toto für die gesamte Mannschaft stehen: Im Roman hat die »Ghost« eine Besatzung von 22 Mann, bestehend aus Matrosen, Jägern und Ruderern, während das Theater mit fünf Schauspielern und einer Schauspielerin auskommen muss. Die fünf Männer an Bord stehen daher nicht nur für sich selbst, sondern auch für alle anderen, die ich nicht in Person kennenlerne. Dafür hat Franziska einen Trick angewandt: Immer wenn die Besatzung als Ganzes im Vordergrund steht, sprechen die Schauspieler im Chor. Das funktioniert aus zwei Gründen sehr gut: Erstens ist Humphrey van Weyden im Roman oft kein besonders subjektiver Erzähler, sondern berichtet recht sachlich von Tatsachen. Diese Tatsachenberichte lassen sich wunderbar anderen Figuren in den Mund legen. Zweitens geht es im Roman um Gruppendynamik und Machtstrukturen. Beides lässt sich spielerisch hervorragend umsetzen, wenn die Texte von einer Gruppe und nicht nur von Einzelfiguren gesprochen werden. Auf diese Weise wird die Kluft zwischen Humphrey und den Matrosen offenbar, wenn er von einer Gruppe Männer niedergebrüllt wird: Er ist als hochgebildeter, wohlhabender Gentleman einfach kein Mitglied dieser Crew. Es wird aber auch die Kluft zwischen Larsen und den Matrosen offen gelegt: Er ist der Despot, der keinen Widerspruch duldet. An Bord eines Schiffes kann es nur eine Hackordnung, niemals eine Demokratie geben und Larsen ist der unangefochtene Herrscher an der Spitze. Andererseits zeigen die Sprechchöre aber auch die Dynamik innerhalb einer Gruppe auf: Wenn Humphrey gemeinsam mit den Matrosen spricht, verdeutlicht dies seine Entwicklung vom fassungslosen Opfer eines Schicksalsschlags zum starken und durchsetzungsfähigen Mann. Spricht hingegen Larsen mit den Matrosen, zeigt dies, dass an Bord eines Hochseeseglers trotz aller Gewalt ein Überleben nur gemeinsam möglich ist – dem tobenden Gewässer hat ein Einzelner wenig entgegenzusetzen, nur in der Gruppe kann die Naturgewalt bezwungen werden.
Auch auf der Bühne ist Der Seewolf ein Abenteuer, aber viel wichtiger als die tosende See aus Jack Londons Abenteuerroman sind das Wachstum der Figuren am Konflikt, die Auseinandersetzung mit Instinkt und Moral, Willkür und Recht, das Finden einer Identität in einer ausweglosen Situation – Der Seewolf ist ein Abenteuer über menschliche Abgründe. Und mein Blick in den Abgrund hat mir gezeigt: Er ist bodenlos. Aber auch voller Möglichkeiten.