Sind wir nicht alle ein bisschen CYRANO?

Selbstzweifel kennen wir alle. Überall gibt es Vorbilder, an denen wir uns orientieren. In Zeitschriften und der Werbung wird uns das Idealbild schöner Menschen vorgeführt, im Büro begegnen wir Kollegen, die viel fleißiger, intelligenter und wortgewandter als wir selbst zu sein scheinen. Auch wir Theaterleute sind nicht frei von Komplexen. Umso interessanter ist es, ein Stück auf die Bühne zu bringen, in dem Menschen aus verschiedensten Gründen glauben einen Makel zu haben, über den andere nicht hinwegsehen könnten:

Wir stehen kurz vor der Premiere des Musicals Cyrano von Koen van Dijk und Ad van Dijk am Bielefelder Stadttheater. Es handelt von Cyrano de Bergerac, einem Mitglied der Gascogner Kadetten, der sich ebenso in die schöne und selbstbewusste Poesie-Liebhaberin Roxane verliebt hat wie sein junger Kollege Christian. Während dieser glaubt, nicht über genügend Esprit zu verfügen, um sie für sich gewinnen zu können,Roxane und Christian - Foto Paul Leclaire leidet der dichterisch talentierte Cyrano unter Komplexen wegen seiner angeblich zu groß geratenen Nase und wagt es nicht, ihr seine Liebe zu gestehen. Kurzerhand verbünden sich die beiden Nebenbuhler: Cyrano verfasst als Ghostwriter poetische Liebesbekundungen und der schöne Christian »leiht« ihm dafür sein schönes Gesicht. Roxane verfällt einer Illusion und glaubt, den perfekten Mann gefunden zu haben: Christian scheint schön und geistreich zugleich zu sein. Als sie ihm erklärt, sich vor allem in den sensiblen und klugen Mann hinter den Liebesbriefen verliebt zu haben, wird klar, dass das Versteckspiel der beiden komplexbeladenen Degenhelden wohl keinem der drei dienlich war. Alle drei Protagonisten stehen sich auf dem Weg zum Liebesglück mit ihren Idealvorstellungen selbst im Weg…

Auch die Darsteller und das Regieteam sind vor Komplexen und Versagensängsten nicht gefeit. Bereits vor der Spielzeitpause hat das Team intensiv geprobt. Aber werden sich nach der sechswöchigen Sommerpause noch alle an die geprobten Details erinnern? Es gibt nun nur noch wenige Proben, ehe sich der Vorhang am 6. September zum ersten Mal heben wird. Zum Glück hat der Regieassistent Michael Britsch während der sechs Probenwochen minutiös die Positionen und Bewegungen der Darsteller in seinem Klavierauszug notiert, sodass er den Darstellern jederzeit helfen kann, das zuvor Geprobte zu rekonstruieren: Wer steht wann wo, mit Blick in welche Richtung? Wer geht wann wo entlang und macht welche Geste zu wem? Manchmal stehen auch die Subtexte dabei, die die Darsteller denken sollen, während sie agieren. So kann der Regieassistent die Rollen auch mit anderen Darstellern einstudieren, falls einmal jemand wegen Krankheit ausfallen sollte, was natürlich niemand möchte.

Weitere Fragen beschäftigen das Ensemble: Wird das erfolgreiche Broadway-Musical in der eigens neu erarbeiteten Fassung beim Bielefelder Publikum ankommen? Klappen die schnellen Kostümwechsel? Wie gelingt es, die anspruchsvolle Roxane auch sympathisch wirken zu lassen? Hält die von der Maske eigens angefertigte extra-lange Nase auch in der anstrengenden Szene, in der Veit Schäfermeier alias Cyrano gleichzeitig singen, dichten und fechten muss? Reicht der kleine Dialog, um die Zeit für die Verwandlung des Bühnenbilds zu überbrücken?

Immerhin hängt das Gelingen solch einer Musicalaufführung von ca. 120 Mitarbeitern auf und hinter der Bühne ab. Das berühmte »Premierenfieber« greift um sich und bringt bei manch einem allerlei Selbstzweifel hervor. Doch eines ist klar: Das Stück soll sowohl berührend als auch komisch sein. Es ist gleichzeitig Hommage an die Poesie und actiongeladenes Heldenstück vor dem  historischen Hintergrund des dreißigjährigen Krieges. Diese Gegensätzlichkeiten müssen verbunden und mit Leben gefüllt werden. Und zum Leben gehören eben auch Komplexe und Versagensängste dazu…

Cyrano_Fechten_Foto Paul Leclaire

Fotos von Paul Leclaire aus Thomas Winters Inszenierung des Musicals Cyrano (Koen van Dijk und Ad van Dijk, lizensiert von Stage Entertainment Productions)