Über Weltanschauungen, Wirklichkeiten und das WIR in unserer Gesellschaft

Schauspielerin Carmen Priego hat diese Rede auf der Kundgebung »Bielefeld ist bunt und weltoffen« , organisiert vom Bielefelder Bündnis gegen Rechts, am 19. Januar 2015 gehalten. Rund 10 000 Bielefelder hatten sich an diesem Abend auf dem Jahnplatz versammelt. An Aktualität hat ihre Rede in den letzten Monaten nichts verloren.

»Nach den Anschlägen und Morden in Paris, Nigeria, dem Terror in Syrien, den NSU Morden, die Liste ist ohne Ende, suchen wir immer wieder nach Erklärungen für den Schrecken. Ungerechtigkeit, Armut, Ausgrenzung, junge Männer ohne Sinn und Aufgabe… Je älter ich werde, umso mehr kommen mir die Erklärungen abhanden, umso mehr habe ich das Gefühl, die Welt nicht zu verstehen. Das ist anfänglich schwer auszuhalten, aber mit der Zeit auch befreiend.

Jeder von uns hat Annahmen und Vorstellungen über die Beschaffenheit der Welt, über die Menschen und ihre Beweggründe. Aber vielleicht ist es gut einen Keil zwischen unsere Annahmen über die Wirklichkeit und die Wirklichkeit an sich zu schieben, und grundsätzlich davon auszugehen, dass wir nicht alles glauben sollten, was wir denken. Der Zweifel, das Zaudern und Zögern stehen nicht hoch im Kurs, der Tatmensch ist das gefragte Modell. Nur warum?

Hamlet, einer der größten Zauderer und Zögerer der Weltliteratur, bleibt so lange ungefährlich, wie er im Zweifel über die Umstände des Todes, des eventuellen Mordes an seinem Vater ist. Erst als er sich zu scheinbarer Gewissheit durchringt, beginnt das große Schlachten. Hamlet empfindet den Zustand des Zweifelns und Zögerns unerträglicher als das Morden.

Die NSU Mörder, die Charlie Hebdo Mörder, alle diese Überzeugungstäter zweifeln nicht an der Richtigkeit ihrer Weltsicht, sie sind mit sich im Reinen und leiten daraus das Recht zur Tat ab.

Oder wie es bei Shakespeares Hamlet heißt, sie sind nicht »Von des Gedankens Blässe angekränkelt.«

Ich glaube, dass die meisten Menschen mit der Wirklichkeit auf Kriegsfuß stehen, weil unser kleines Ich nicht ausreicht, die Wirklichkeit in ihrer Komplexität zu erfassen, und dass die Zweifler, Zögerer und Zauderer bedeutend weniger Unheil anrichten als Menschen mit unverrückbaren Wahrheiten.

Ich hoffe die Zukunft gehört den Unreinen, Hybriden, den Mischwesen und Mischwelten, den Zwischen- und Schwebezuständen, in denen wir anerkennen müssen, dass wir nicht viel über die Welt und uns selbst wissen und gerade deswegen mit zärtlichen Augen auf uns sehen.«

3 Kommentare:

  1. Danke, Carmen, für diese wichtigen Gedanken! In der Tat macht uns das blinde Hassen und Morden, hinter dem oft festgefügte Weltbilder und Überzeugungen stehen, sprachlos. Die Wirklichkeit ist gar nicht geeignet, von ihr überzeugt zu sein, überzeugt sind wir immer nur von Täuschungen. In diesem Sinn ist dein Plädoyer des Zweifelns, des Schwebens und der zärtlichen Nachsicht von großem Wert.

    Der weit überwiegende Teil des unnötigen menschlichen Sterbens in dieser Welt geht indes nicht auf das Konto blinden Hasses oder mörderischer Überzeugung, sondern geschieht jenseits der öffentlichen Aufmerksamkeit durch Hunger, verunreinigtes Wasser und absolute Chancenlosigkeit. Auf der anderen Seite existiert ein nicht vorstellbarer menschlicher Überfluss und unermesslicher Luxus. Diese gewaltige Unwucht, die jede natürliche Dimension weit hinter sich lässt, kommt nicht zustande, weil wir Menschen es eben nicht besser wüssten oder die Wirkmechanismen unsere menschliche Erkenntnisfähigkeit überforderten. Die Funktionalität einer solchen Welt mag komplex sein, sie wird aber sehr wohl durchschaut, auch von Menschen, die davon profitieren. So ist im Umgang mit dieser Situation, die fortlaufend menschliche Existenz zugrunde richtet, Nüchternheit und Umsicht angezeigt, aber allzu großes Zögern und Zaudern kann durchaus unheilstiftend wirken.

  2. Carmen Priegos Appell zu mehr Offenheit ist gut; aber diese Haltung braucht den Mut und die innere Stärke, Unentschiedenes und Unentscheidbares auszuhalten, ohne nach raschen Lösungen zu greifen. Im Gegensatz dazu gehen Extremisten davon aus, die Wahrheit zu kennen und nehmen sich das Recht, über andere zu richten.
    Es ist wohl gerade das Versprechen eines Lebens mit klaren Koordinaten, was extremistische Perspektiven verführerisch macht, und nicht nur für „junge Männer ohne Sinn und Aufgabe“. Inzwischen schließen sich auch junge Frauen voller Idealismus, Glaubens- und Opferbereitschaft dem „IS“ an.

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