Zwei lieben sich und dürfen sich nicht haben – das ist die Kernstory von Rossinis komischer Oper La scala di seta. Gibt’s solche Liebesgeschichten heutzutage überhaupt noch? Warum sollte ich mir das ansehen in Zeiten der totalen Wählbarkeit der eigenen Biografie, serieller Monogamie und der Emanzipation von Mann und Frau?
Gioachino Rossini lebte vor 200 Jahren und komponierte Opern-Dauerbrenner wie Der Barbier von Sevilla oder La Cenerentola. Nicht gerade ein Dauerbrenner hingegen ist La scala di seta, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein paar Mal in Italien aufgeführt wurde, dann in Vergessenheit geriet und erst nach dem Zweiten Weltkrieg seine deutsche Erstaufführung hatte: Nach den Trümmerjahren wollten die Deutschen zu Zeiten des Wirtschaftswunders gern Unterhaltsames und Kurzweiliges auf den Opernbühnen sehen. Im Jahr 2015 sind die Traumata des Zweiten Weltkriegs in den Hintergrund gerückt, das Wirtschaftswunder der 1960er Jahre ist lange vorbei und wir erleben stattdessen eine ideologisch aufgeladene Diskussion über Flucht und Krisenherde vor den Türen Europas, ungestrafte Volksverhetzung im Internet, demonstrierende Menschenfeinde auf den Straßen und politische Ratlosigkeit. Warum zeigt das Theater Bielefeld im Jahr 2015 eine komische Oper über Zwei, die sich lieben und sich nicht haben dürfen?
»Zwei, die sich lieben und sich nicht haben dürfen, gibt es heute immer noch«, glaubt Nina Kühner, Regisseurin der La scala di seta-Inszenierung am Theater Bielefeld, mit der ich mich treffe, um Licht ins Dunkle zu bringen. Sie führt als Beispiel Adelsfamilien und das High Society-Milieu an. »Nur interessiert mich die High Society halt nicht«, schmunzelt sie. Sie will nah dran bleiben an der Lebenswelt des Durchschnittsbürgers und eine Geschichte erzählen, die genauso in der Nachbarschaft passieren könnte. Sie erklärt mir, warum ihre Figuren Giulia und Dorvil einen schweren Start in ihre heimliche Ehe haben: Im Interesse von Giulias Familie – italienische Einwanderer und Inhaber einer mehr schlecht als recht gehenden Trattoria – soll sie den reichen, aber blasierten Blansac heiraten, einen japanischen Immobilienmogul (gesungen von Yoshiaki Kimura). Die Heirat soll der Familie die Rückkehr nach Italien finanziell ermöglichen. Nur liebt Giulia Dorvil, Sohn einer chinesischen Einwandererfamilie mit einem Schnellimbiss (gesungen von Lianghua Gong). »Die Zwei lieben sich und dürfen sich nicht haben, weil finanzielle Interessen im Weg stehen«, erläutert Nina. Auch heute noch gibt es soziale Schichten, in denen nach »oben« heiraten als erstrebenswert gilt, nach »unten« jedoch nicht.
Die zündende Idee, die Handlung in einer Bar anzusiedeln, kam Nina und ihrer Bühnen- und Kostümbildnerin Hanna Zimmermann bei der näheren Beschäftigung mit der Musik. »Die Germano-Arie war der Schlüsselpunkt. Der Diener Germano ist ein heimlicher Trinker, genehmigt sich pausenlos einen Schnaps und hat deshalb dauernd einen sitzen. Auch in der Musik ist das Betrunkensein fest verankert. Ich habe mich also gefragt: Wo gibt es heute noch Diener?« berichtet Nina. Ihre Lösung: in der Gastronomie. In ihrer Interpretation ist Germano ein Kellner, der selbst sein bester Kunde ist. Einem Geistesblitz hat sie es zu verdanken, dass der Titel der Oper La scala di seta auch in ihrer Inszenierung wörtlich zu nehmen ist. Während im Original Dorvil an einer seidenen Leiter zu Giulia ins Zimmer klettert, hangelt sich unser Dorvil über die Leuchtreklame der Bar zu seiner Geliebten: Das Lokal heißt LA SCALA DI SETA.
Doch nicht nur der verworrenen Handlung einen gegenwartstauglichen Sinn abzugewinnen, ist für das Regieteam eine Herausforderung. Die Komik einer 200 Jahre alten Farsa comica funktioniert heute nicht mehr ohne Weiteres: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wollte man gewisse Stereotype in der Tradition der Commedia dell’Arte sehen; Komponisten und Librettisten folgten einer festen Struktur und schufen schematische Figuren, die das Publikum sofort wiedererkannte. Heute sorgen diese Stereotype nicht mehr zwangsläufig für schallendes Gelächter, da sich unsere Sehgewohnheiten und unser Verständnis von Witz verändert haben. Auch die Komik muss einem zeitgenössischen Standard gerecht werden, weshalb das Regieteam nach anderen Wegen suchen muss, die Komik rüberzubringen. »Wir sind mit dem Understatement eines Loriot groß geworden. Unsere Auffassung von Humor und Komik speist sich aus Missverständnissen und Fehlkommunikation«, legt Nina mir dar.
Nina Kühners Inszenierung eines 200 Jahre alten Rossini ist unverkennbar modern – mit einer Handlung, die im Jahr 2015 nebenan spielen könnte und einer Komik, die heutige Zuschauer verstehen und witzig finden. Ist also alles eine Frage der Interpretation? Dazu hat Nina eine klare Meinung: »Jede Inszenierung eines älteren Stücks, sei es Schauspiel oder Oper, ist heute zwangsläufig modern, historischer Kontext hin oder her. Der Regisseur ist zeitgenössisch, die Schauspieler und Sänger sind zeitgenössisch, das Publikum ist zeitgenössisch – somit ist es auch jede Inszenierung, ob gewollt oder ungewollt. Eine akkurate Historisierung ist gar nicht möglich.« Ich finde, damit hat sie Recht. Nina geht aber noch weiter: »Zeigt man ein Stück in modernen Kostümen und vor moderner Kulisse, gilt es als modern. Zeigt man das gleiche Stück mit der gleichen Aussage in historischen Kostümen und mit historischem Bühnenbild, gilt es als historisch. Das ist doch bescheuert.« Und ich merke: Damit hat Nina erst recht Recht!
Die Diskussion in der Opernwelt, ob eine Inszenierung dem historischen Original gerecht werde oder eine moderne Verhunzung sei, wird mit diesem Argument obsolet. Jedes noch so alte Werk ist zeitgemäß, weil Künstler und Publikum einen zeitgemäßen Zugriff schaffen. Und eine heutige Inszenierung ist auch in historischer Gewandung modern, weil der Zeitgeist eben modern ist. So einfach ist das. Aus unserer Haut des 21. Jahrhunderts kommen wir nicht raus.
Und so beantworte ich mir selbst meine Frage, warum ich mir heute noch ein 200 Jahre altes Stück ansehen sollte, das 150 Jahre nicht gespielt und erst vor 50 Jahren wiederentdeckt wurde: Weil nichts Menschliches jemals aus der Mode kommt. Und erst recht nicht die Liebe im Jahr 2015.
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