Musicals? Nicht mit mir. Ich bin eine Freundin des klassischen Schauspiels. Ohne melodiösen Firlefanz. Nicht ganz unvoreingenommen steige ich also die schier endlosen Treppenstufen zum kleinen Theatersaal unter dem Dach des Theaters am alten Markt empor. Was mich erwartet, ist eine Probe des Stücks John & Jen – ein amerikanisches Kammermusical von Andrew Lippa und Tom Greenwald, inszeniert von Nick Westbrock.
Ich nehme Platz auf einer der mit schwarzen Lehnen und weichen, grauen Sitzpolstern ausgestatteten Zuschauerbänke. Ich habe noch Zeit, meine Umgebung auf mich wirken zu lassen. Während ich mich noch gedanklich und emotional darauf vorbereite, gleich nicht in den Genuss eines klassischen Theaterstücks zu kommen, sauge ich gierig alle Eindrücke auf. Wände und Boden sind schwarz. Es ist warm in dem kleinen Raum. Rechts neben der Bühne ein Klavier, ein Cello und ein Schlaginstrument. Unweit der Instrumente identifiziere ich die Darstellerin und den Darsteller. Sie laufen umher, stimmen sich ein, nippen an ihren Teebechern, machen Liegestützen, umarmen sich und klopfen sich dabei auf den Rücken – ein Warm-up. In der Bühnenmitte ein geometrisches Konstrukt: eine quadratische, schräg aufgestellte Holzfläche, darüber nach oben hin spitz zulaufende Bänder. Es erinnert mich an ein Tipi. Links und rechts im Vordergrund sind zwei schwarze, aufklappbare Holzkisten platziert. Mir gefällt das schlichte und symmetrische Bühnenbild. Ich male mir schon aus, welche Funktion die wenigen Gegenstände im Stück haben werden.
Nun erhebt sich der Pianist. Angelehnt an sein Instrument trifft er letzte Absprachen mit der Darstellerin und dem Darsteller. Gleich geht es los. Sie, die Darstellerin, wirft noch einen prüfenden Blick in die rechte Holzkiste. Er, der Darsteller, rückt das rechte Pendant zurecht. Hinter mir fragt jemand, ob alle Zuschauerinnen und Zuschauer im Raum sind. Dann wird es dunkel. Erster Akt. Erzählt wird die Geschichte, das gemeinsame Aufwachsen von John und Jen, kleinem Bruder und großer Schwester. Das geometrische Konstrukt stellt sich als kindliches Versteck, als Rückzugsort, heraus. Mit Wäscheklammern werden immer wieder Fotos der Geschwister daran befestigt: Die Zeit vergeht. Dann ist Weihnachten und zum ersten Mal wird es bedrückend. Die Eltern streiten sich und Jen erklärt ihrem Bruder, dass der Weihnachtsmann nicht kommen wird. Neue Szene. Jen und John schließen einen geschwisterlichen Treuepakt, untermalt von mystisch anmutender, fast märchenhafter Musik. Wie die Geschwister miteinander umgehen – liebevoll, zärtlich, gekränkt, wütend – erinnert mich unvermeidlich an mich selbst. Auch ich bin eine große Schwester.
Plötzlich scheint alles ganz schnell zu gehen. Jen verlässt das traute Heim, um in der quirligen Metropole New York zu studieren. „Schütze das Schloss“ trägt Jen ihrem Bruder mit sanfter Stimme zum Abschied auf. Sie macht ihm Mut. Immer wieder. Ich bekomme Gänsehaut. Nach langer Zeit dann das Wiedersehen der Geschwister. Die pazifistische Jen trifft auf einen patriotischen John, der wenig später – und das ist der tragische Höhepunkt des ersten Aktes – im Vietnamkrieg fällt.
Das Licht geht an, die Musiker blättern in ihren Noten. Die Darstellerin und der Darsteller hüllen sich in dicke Frotteebademäntel, trinken etwas, sprechen mit dem Regisseur und einem Bühnentechniker. Jemand öffnet das Fenster und lässt die abendliche, kalte Luft herein. Pausenstimmung. Jemand schließt das Fenster wieder, als die Schauspielerin den kleinen Theatersaal betritt. Sie ist frisch frisiert und trägt ein orangefarbenes Tuch in ihrem blonden Haar. „Auf Position“ höre ich aus einer der Reihen hinter mir. Gespannt lehne mich zurück.
Auch der zweite Akt – Jen ist nun alleinerziehende Mutter, John heißt ihr Sohn – präsentiert sich mir als emotionales, intensives Auf und Ab. Zum Lachen bringt mich die Szene, in der Mutter und Sohn ein Baseballspiel besuchen. Hier eine hysterische wie mitfiebernde Mutter auf den Publikumsrängen, dort ein ambitionierter wie genervter Sohn auf dem Spielfeld. Dann wieder Szenen, die nachdenklich stimmen. Jen, noch trauernd um ihren verstorbenen Bruder, lernt, ihr Kind loszulassen. Als das Stück endet, bemerke ich, wie fest ich den Stift in meiner Hand halte.
Auf dem Nachhauseweg durch die stillen und dunklen Straßen der Bielefelder Altstadt lasse ich John & Jen auf mich wirken. All die witzigen Momente. Und die tragischen. Ohne es zu merken, schweife ich ab. Geschwister lieben sich, sie streiten sich, sind wütend aufeinander, sind stolz aufeinander. Eine emotionale Achterbahnfahrt. Noch als ich meine Wohnungstür aufschließe, schwelge ich in Erinnerungen.
Erst später kommt mir noch ein Gedanke, der mich schmunzeln lässt: Die Darstellerin und der Darsteller haben gesungen. Mal leise und sanft, dann wieder laut und inbrünstig. Während ich dort saß, bewegt und ganz nah am Bühnengeschehen, habe ich keine Sekunde darüber nachgedacht.