Gedanken einer Zuschauergruppe nach dem Besuch von Terror
Gebannt hat jeder von uns das Gerichtsstück verfolgt. Auch in der Pause sehe ich, wie es in jedem von uns brodelt. Erst will keiner anfangen. Dann reden wir alle durcheinander…
Immer wieder diskutieren wir darüber, was für eine Frage das Stück eigentlich an uns stellt…
SEBASTIAN: Die Frage ist: In welchen Fällen ist es moralisch gestattet, gegen das Recht zu handeln?
ROBERT: Oder: Sollte das Recht angepasst werden?
SEBASTIAN: Aber in dem Fall ist das Recht nun einmal so. Und wir müssen uns fragen: Halten wir uns an das Recht, weil wir glauben, dass es über dem Menschen steht, oder wollen wir uns auf menschliche Vernunft berufen, die uns in diesem Fall sagt, es ist vielleicht objektiv besser, das Flugzeug abzuschießen, um mehr Opfer zu vermeiden?
ALEXANDRA: Für mich ist es auf moralischer Ebene keine Frage. Ich würde fast sagen, ich hätte wahrscheinlich genauso entschieden. Aber die Frage ist nicht, ob wir anderen auch so gehandelt hätten, sondern ob jeder so handeln dürfte.
Was uns sehr beschäftigt hat, war der Aspekt der Nähe und der persönlichen Einbindung. Inwiefern handelt man anders, wenn man persönlich betroffen ist und was können wir daraus schließen? Ausnahmsweise sind wir uns ganz einig: wer persönlich involviert ist, kann keine freie Entscheidung mehr treffen.
Den Gedanken, dass man die Terroristen hätte »gewinnen lassen«, wenn man nicht gehandelt hätte, wurde von uns wiederum besonders kontrovers diskutiert…
ALEXANDRA: Überlegt euch doch mal: Der Terrorist weiß, dass wenn er ein Flugzeug entführt, er sowieso Menschen umbringt. Entweder werden die 200 im Flugzeug abgeschossen, oder er hat den »Jackpot« und es sterben noch mehr…
BRITTA: Du willst also sagen, dass wir machtlos gegenüber den Terroristen sind, weil die sowieso gewinnen?
ISABELL: Also stimmt das Argument von Lars Koch auch nicht, dass er schießen musste, damit die Terroristen nicht gewinnen. Denn die haben auf gewisse Art und Weise so oder so gewonnen.
ROBERT: Ohne einen Abschuss hätte man aber dennoch vor den Terroristen kapituliert!
BRITTA: Für mich wäre das überhaupt keine Kapitulation gewesen. Dieser blinde Aktionismus kann dazu führen, dass man ganz schnell so ähnlich ist wie die Terroristen. Obwohl es schwer zu ertragen ist: Manchmal ist nichts machen auch eine Strategie.
SEBASTIAN: Aber schauen wir uns mal die Reaktion der USA nach dem 11. September an. Sie haben mehrere Kriege begonnen, die sicherlich unberechtigt waren.
ROBERT: Ist es blinder Aktionismus, wenn man sagt, als letzten Ausweg darf man schießen? Wenn alles andere schlimmere Folgen hätte?
BRITTA: Du weißt nicht, ob es der letzte Ausweg war. Wann willst du entscheiden, wenn der letzte Ausweg gekommen ist? Du bist nie Herr der Lage.
ROBERT: Man trifft dauernd Entscheidungen, ohne sicher zu sein. Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es für gar nichts. Der Angeklagte wurde aus einem Grund auf diese Position gesetzt: Um den Luftraum über Deutschland zu überwachen. Er wurde eingesetzt, um im Notfall das Land auch mit Waffengewalt zu verteidigen. Damit wurde ihm diese Entscheidung auch zugemutet und die Verantwortung übertragen.
SEBASTIAN: Aber er ist ja nicht autonom. Er hat ja Befehle, an die er sich halten muss.
ROBERT: Er war in dieser Situation, zusammen mit seinem Kollegen, der einzige, der überhaupt etwas hätte tun können. Du kannst dich leichter aus der Affäre ziehen, wenn du daneben stehst und gar nichts machst. Durch deine Nicht-Entscheidung ist es so, als wärst du gar nicht da gewesen.
BRITTA: Ich glaube, dass sich sehr viele von diesem Argument leiten lassen: Man muss doch was tun. Man muss handeln, denn Handeln ist immer besser als nicht Handeln, weil nichts machen als passiv und schwach angesehen wird. Das finde ich schwierig. Ich finde, nicht handeln ist auch eine Entscheidung, die man zumindest ernst nehmen sollte.
In »Terror« zeichnet sich sehr schnell ab: Es geht um den Kampf Gesetz vs. Moral. Wir haben diesen Gegensatz in Frage gestellt…
SEBASTIAN: Ich bin für »nicht schuldig«. Die Staatsanwältin hat das so dargestellt, also ob das Recht irgendetwas wäre, was nicht veränderbar wäre. Aber Recht ist wandelbar und es ist von Menschen erschaffen. Es gibt Situationen, in denen das Recht sich auch ändern kann und ich denke, dass das Recht in einer solchen Situation wie dieser hier geändert werden müsste – unter Einbehaltung gewisser Grundsätze, die natürlich nicht antastbar sind.
ROBERT: Wenn der Mensch gut wäre, bräuchte man Gesetze nicht. Die sind nur deswegen entstanden, weil gewisse Dinge passiert sind oder eben auch nicht. Und dann muss man es eben regelmäßig anpassen, das passiert ja auch ständig. Dennoch hat es natürlich einen hohen Standard.
SEBASTIAN: Wir stützen uns auf unser Grundgesetz, aber das ist ja nicht durch göttliche Eingebung entstanden, sondern dadurch, dass sich Menschen zusammengesetzt haben. Ich finde es daher einfach nicht richtig, eine strenge Grenze zwischen Gesetz und Moral zu ziehen. Ich finde, es gibt eine Interdependenz zwischen beiden: Gesetze basieren auf moralischen Vorstellungen von Menschen. Es ist immer ein Konsens.
BRITTA: Und deshalb muss man auch bedenken, dass das Gesetz nicht immer gerecht ist: Weil es immer nur der größte gemeinsame Nenner ist, sozusagen. Man muss im Hinterkopf behalten, dass das Gesetz auch Lücken und Schwächen, aber trotzdem seine Berechtigung hat.
Viele Faktoren haben unsere Meinungen beeinflusst. Wir haben versucht zu analysieren, welche das sind…
SEBASTIAN: Es war auf jeden Fall ein Stück, bei dem man ständig konzentriert folgen musste.
BRITTA: Und bei dem man sich irgendwann selbst nicht mehr trauen konnte, weil man immer schwankt und sich selbst fragt: Dieses neue Argument, was heißt das jetzt für mich?
ALEXANDRA: Ich habe gemerkt, dass ich eine echte Skeptikerin bin. Bei jedem Argument habe ich mich zunächst gefragt, was ich dagegen sagen kann. Dann wird es richtig kompliziert, wenn du jedes Argument zu widerlegen versuchst. Denn für irgendetwas muss man sich ja entscheiden.
SEBASTIAN: Wobei das der richtige Ansatz ist, denke ich. Man muss schauen, wogegen man mehr einwenden kann. Denn in diesem Fall ist es ja so, dass man gegen beide Entscheidungen etwas sagen kann. So ging es mir zumindest, ich war während des ganzen Stücks hin- und hergerissen.
ROBERT: Ich habe auch das Gefühl, man bräuchte mehr Zeit, um das richtig zu durchdenken. Die Entscheidung von einem hohen Gericht über so einen Fall beruht wahrscheinlich auf einem Prozess, der über Monate geht.
ALEXANDRA: Das stimmt. Darüber hinaus finde ich, dass man genau gemerkt hat, wo Schirach einen hindrängen will. Ich hatte das Gefühl, dass der Autor wollte, dass wir für schuldig stimmen. Ich habe seine Bücher gelesen. Vielleicht habe ich es in das Stück aber auch nur hineininterpretiert.
BRITTA: Hast du dich von Ferdinand von Schirach überzeugen lassen, für schuldig zu stimmen?
ALEXANDRA: Der Gedanke kam mir erst ganz am Schluss. Ich hatte das Gefühl, dass die Staatsanwältin viel mehr Argumente gebracht hat als der Verteidiger. Natürlich bleibt dann die Frage, wie man die Argumente gewichtet. Ich hatte einfach das Gefühl, dass in den Abschlussplädoyers herauszulesen war, dass der Autor für das der Staatsanwältin ist.
ROBERT: Ich glaube, dass es auch sehr entscheidend ist, mit welcher Einstellung man in das Stück geht. Es wurde zwar am Anfang gesagt, wir sollen alles vergessen, was wir über den Fall wissen, aber das macht man ja nicht! Der Mensch ist Mensch – du hörst dann vielleicht auch das, was du hören willst und siehst die Argumente der Gegenseite in einem ganz anderen Licht.
Uns beschäftigen besonders die Auswirkungen auf die Zukunft. Denn wir sind jung und wollen in einer freien und sicheren Welt leben. Welche Entscheidungen müssen wir dafür jetzt treffen?
BRITTA: Wir sind uns also einig, dass es Fälle gibt, wo man die Moral über das Gesetz stellen muss. Aber was ist, wenn wir immer mehr Situationen erleben, die uns dazu verleiten, kleinere Anpassungen am Recht vorzunehmen? Seht ihr nicht die Gefahr, dass wir dann irgendwann an einem Punkt sind, wo wir nicht hinwollten, ohne es richtig gemerkt zu haben? Gerade in der momentanen Situation, die durch Terror und Angst geprägt ist, wollen wir mehr Sicherheit und beschränken immer mehr unsere Freiheit, bis kaum noch etwas davon übrig ist.
SEBASTIAN: Die Gefahr besteht. Wenn wir uns im Kriegszustand wähnen, könnten wir unser Gesetz irgendwann so ändern, dass es für uns selbst eine Gefahr darstellt und wir unsere Werte verraten. Im Bereich Überwachung sind wir ja vielleicht schon auf dem Weg, da gibt es schon Einschränkung von Freiheit.
ROBERT: Da sind wir wieder bei dem Punkt des kleineren Übels. Man nimmt das in Kauf, damit man nicht an der nächsten Straßenecke von einer Bombe getötet wird.
BRITTA: Werden wir immer zwischen Freiheit und Sicherheit pendeln und nie die Mitte treffen?
Sebastian und Robert haben für »nicht schuldig« plädiert, Isabell, Alexandra und ich für »schuldig«. Noch nie habe ich ein Theaterstück erlebt, das so viel Gesprächsbedarf hervorruft. Nach stundenlanger Diskussion im Theaterflur, in der Kneipe und in der WhatsApp-Gruppe auf dem Heimweg haben wir viele interessante Erkenntnisse gewonnen – und noch mehr Fragen, die bleiben.
Sind Eure Diskussionen ähnlich verlaufen? Was hat das Theaterstück bei Euch ausgelöst?
Von Britta Zachau
Hallo Nina, es freut mich, dass dir das Stück und mein Diskussionsbeitrag dir gefallen haben. Der Geschlechter-Aspekt, den du ansprichst, ist uns auch aufgefallen, allerdings in anderer Weise: In unserer Gruppe haben die beiden Männer für „nicht schuldig“ und die drei Frauen für „schuldig“ plädiert. Inwiefern da die Sympathie/ das Mitleid für den Angeklagten eine Rolle gespielt hat, kann man natürlich nicht genau sagen. Ich fand diese Beobachtung aber auch sehr interessant! – Ebenso wie Aussagen wie: „Du hast für XY gestimmt? Das hätte ich aber von dir nicht gedacht…“ 😉 Viel Spaß beim zweiten Anschauen!
Hallo und Danke für diese nochmal sehr anschaulich auf den Punkt gebrachte große Ambivalenz, die in der Thematik liegt. Ich habe es auch so erlebt, dass spontan Diskussionsbedarf aufkam, sogar rechts und links mit mir unbekannten Theater-Mitbesuchern kam man nach der Pause in einen lebhaften Austausch. Dabei ist mir noch ein ganz banaler Effekt aufgefallen: Anscheinend war den Frauen der Angeklagte durchweg sympathisch und hat ein hohes Maß an Mitgefühl geweckt, während Männer das anscheinend eher nicht so empfanden und einen sachlicheren Blick hatten. Das mag unbewusst bei der Urteilsfindung auch noch eine Rolle spielen. Dürfte es natürlich eigentlich nicht – aber da sind wir wieder beim Thema – „Jeder ist auch (nur) Mensch“, und bei der Suche nach einer Antwort auf die im Raum stehenden Fragen sind ganz unterschiedliche innere Instanzen beteiligt. Ich schau’s mir auf jeden Fall nochmal an und bin gespannt, wie es beim zweiten Mal wirkt.