Lilith: Mythos und Moderne

Ein Beitrag von Lilith Blöbaum

Lilith ist ein Wüstengeist. Lilith ist die Mutter aller Dämonen. Lilith ist die erste Feministin. Lilith ist Kindsmörderin. Lilith ist die Urmutter. Lilith ist die erste Frau Adams.

Ich bin Lilith. Meine Eltern haben mich so genannt.

Als ich klein war, war Lilith einfach nur ein Name für mich. Zwar ein Name, bei dem alle Menschen immer wieder gesagt haben: »Oh, Lilith … das ist ja ein interessanter Name.« Aber für mich war es nur ein Name.

An der Schule war ich »die erste Lilith«.

Einmal hat ein Lehrer mich gefragt, ob ich denn wüsste, dass meine Eltern mich nach einer Hexe benannt hätten: der Hexe aus Shakespeares Hamlet.

Und als wir im Deutsch-Grundkurs Goethes Faust gelesen haben, haben alle »das bist ja du!« gerufen, als der Name in der Walpurgisnachtszene auftaucht.

Kurz gesagt: Es ist ein seltener Name, der aber etymologisch keine kleine Bedeutung hat.

Der Mythos, dass Adams erste Frau war, also die erste Frau überhaupt, ist noch immer weithin unbekannt, obwohl er ein Urthema der Menschheitsgeschichte behandelt.

Peter Eötvös hat sich in der Oper Paradise Reloaded (Lilith) mit dieser Figur auseinandergesetzt.

Was wäre, wenn nicht Eva unsere Urahnin war, sondern Lilith als erste Frau Adams?

Tatsächlich machen sich die wenigsten Menschen darüber Gedanken, dass es zwei Schöpfungsgeschichten in der Bibel gibt.

Einmal heißt es: »Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.« (Gen 1,1-2,4a)

An späterer Stelle heißt es allerdings: »Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei.« (Gen 2,4b-3,24) »Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er vom Menschen nahm, und brachte sie zu ihm.« (1. Mose 2: 22-24)

Was ist also mit der anderen Frau, die zum Bilde Gottes geschaffen wurde, passiert? Hatte Adam vor Eva, die ihm aus seiner Rippe geformt wurde, noch eine Frau?

Und war diese Frau, seine erste Frau, ihm also gleichberechtigt?

All diese Fragen werden durch die Figur der Lilith beantwortet. Ja, Adam hatte vor Eva eine Frau. Lilith. Und ja, Gott schuf Mann und Frau gleich. Aber wieso kennen wir Lilith dann nicht? Was ist mit Lilith passiert? Laut der Legende war Lilith selbstbestimmt, selbstbewusst und alles andere als unterwürfig. Adam allerdings wollte lieber, dass Lilith ihm gehorcht, dass sie macht, was er sagt.

Doch das wollte sich die starke Lilith nicht gefallen lassen.

Lilith mit einem Apfelbaum
© Bettina Stöß

Lilith, gespielt von Nohad Becker, tut sich bei Paradise Reloaded mit Lucifer, gespielt von Frank Dolphin Wong, zusammen. Sie will ihren Adam, verkörpert von Lorin Wey, zurückgewinnen und verbündet sich mit dem Teufel, der von Anfang an ein Menschenfeind war. Er soll Adam davon überzeugen, dass die Menschheit verdorben ist. Also nimmt Lucifer Adam mit auf eine Zeitreise und zeigt ihm, wie düster die Zukunft ist. »Warum führst du mich von Krieg zu Krieg?«, fragt Adam nach einiger Zeit. Spätestens da wird klar, dass die Zukunft der Menschheit alles andere als paradiesisch ist. Ganz nach dem Motto »Alles was entsteht / ist wert dass es zugrunde geht / denn besser wärs wenn nichts entstünde«, wie Mephisto es in Goethes Faust sagt, zeigt Lucifer Adam eine gottlose Gesellschaft, die sich selbst zerstört. Nun begreift auch der naive Adam, dass die Zukunft so nicht aussehen darf und beschließt: Kein Mensch darf mehr entstehen. Doch da sind sowohl seine geliebte Eva, gespielt von Veronika Lee, als auch Lilith bereits schwanger. Die Entstehung der Menschheit kann nicht mehr verhindert werden.

Warum hat sich Peter Eötvös für eine so uralte Geschichte interessiert? Faszinierend an dieser Geschichte, die ihre ersten Ursprünge in sumerischen Schriften hat, ist, dass sie alles andere als alt ist. Im Gegenteil: Sie ist modern und sehr aktuell. Eötvös hat es geschafft, eine Jahrtausende alte Geschichte zu erzählen und dabei zu verdeutlichen, dass sie auch heute noch ein zentrales Menschheitsthema trifft.

Folgt man Peter Eötvös Oper, dann stellt sich mir eine ganz andere Auffassung der Ursünde dar: Die wahre Ursünde der Menschheit ist nicht, dass Eva den Apfel vom Baum gepflückt hat. Sie ist nicht der Ungehorsam gegenüber dem Vater im Himmel. Die eigentliche Ursünde ist, dass Adam Lilith dominieren wollte, obwohl sie ihm gleich geschaffen war. Die eigentliche Ursünde ist der Versuch des Menschen, einen anderen Menschen zu dominieren, Macht über ihn haben zu wollen. In der Geschichte von Adam und Lilith ist es nicht nur der Wille, Macht über einen anderen Menschen auszuüben, sondern vor allem Macht über das andere Geschlecht.

Nicht ohne Grund wurde Lilith also zur Symbolfigur der Emanzipation.

Und welches Thema wäre in Zeiten von #metoo und der Gender-Pay-Gap aktueller als die Frage der Gleichberechtigung der Geschlechter?

Insofern ist Lilith für mich nicht nur ein seltener Name, sondern ein Versprechen an eine gleichberechtigte Zukunft.