Der Chor in Macbeth
Fast vier Monate ist es jetzt her, dass ich eine Probe des Opernchors besucht habe. Heute sitze ich in einer Vorstellung von Macbeth. Es ist die zweite Vorstellung und wie auch bei der Premiere ist das Stadttheater komplett ausverkauft. Im großen Saal höre ich Unterhaltungen, Gemurmel, Räuspern. Dann geht plötzlich das Licht aus, es herrscht abrupte Stille. Die Bielefelder Philharmoniker beginnen zu spielen und der Vorhang öffnet sich: Auf der Bühne herrscht buntes Treiben. Der Chor singt, tanzt, schauspielert. Und ich verstehe sofort, warum einer Oper wie Macbeth eine so lange Probenzeit vorausgeht.
Ich erinnere mich an meinen ersten Probenbesuch Anfang Oktober. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Opernchor die reinen Chorproben schon fast abgeschlossen. Bereits am Ende der vergangenen Spielzeit – im Juli letzten Jahres – hatte der Chor mit dem Proben begonnen. »Es ist wichtig, dass zur Konzeptionsprobe gesanglich schon alles sitzt«, verrät mir Hagen Enke, der seit 2004 Chordirektor am Theater Bielefeld ist. Deshalb wird während der reinen Chorproben zweimal täglich geprobt. Kurz vor der Konzeptionsprobe finden drei bis vier Gesamtproben mit den Solisten statt. Bei einer davon ist außerdem der Generalmusikdirektor Alexander Kalajdzic dabei. Die Konzeptionsprobe selbst findet in der Regel sechs Wochen vor der Premiere statt. Hierbei treffen sich die Verantwortlichen für Regie, Dramaturgie, Bühnen- und Kostümbild mit den Sängerinnen und Sängern und besprechen, wie das Stück inszeniert wird, wie Bühne und Kostüme aussehen werden. »Die Konzeptionsprobe ist ein entscheidender Moment. Bis dahin hat man bei den Proben gar keine Vorstellung davon, auf was es bei der Inszenierung eigentlich hinaus läuft. Welche Rolle der Chor hat, wie die Kostüme aussehen und was neben dem Singen noch erwartet wird«, sagt Enke. Auch die Chormitglieder sind sich einig: Die Konzeptionsprobe ist immer ein besonders spannender Punkt im Probenverlauf. »Man weiß nie, was auf einen zukommt. Vielleicht sind wir in Macbeth gar keine Hexen, vielleicht sind wir Feen«, mutmaßt eine der Chordamen noch Ende Oktober. An die Konzeptionsprobe schließen die szenischen Proben mit Bühnenbild und Requisiten an. Sie dauern sechs Wochen und sind die letzte Etappe der Probenphase.
Am 27.11. ist es dann soweit: Ich sitze in der Konzeptionsprobe und bin genauso gespannt wie alle anderen auf die Ideen des Regieteams. Und ich werde nicht enttäuscht. Bereits die Kostümskizzen lassen erste Vermutungen aufkommen: Auf den Skizzen erkenne ich kurze Röcke, Korsagen und Netzstrumpfhosen – der Chor wird unter anderem in die Rolle von Prostituierten schlüpfen.
Schnell wird mir klar: Bei der Inszenierung von Regisseur Bálasz Kovalik geht es um Manipulation, Macht und Verführung. Die Hexen spielen dabei eine besondere Rolle. Mit ihren Weissagungen lösen sie das Streben Macbeths und seiner Frau nach Macht und damit zahlreiche Morde aus. »Der Hexenchor kann als dritte Hauptfigur verstanden werden«, bestätigt Kovalik ihre Bedeutung.
An diesem Samstagabend im Stadttheater merke ich, wie groß diese dritte Hauptrolle eigentlich ist: Die Hexen sind nicht nur Wahrsagerinnen. Gleichzeitig sind sie wie ein Spiegel, der das Innere der Hauptfiguren nach außen bringt. Bei seiner Machtgier und seinen Taten beruft sich Macbeth immer wieder auf die Weissagungen der Hexen. Er lässt sich von ihnen verführen und manipulieren. Nun zahlen sich die langen gemeinsamen Chorproben aus: Der Zusammenklang der verschiedenen Stimmen der Chordamen bringt die Macht der Hexen zum Ausdruck, erzeugt eine ganz besondere Atmosphäre und trägt damit die Geschichte.
Der Gesang des Chors hat während der Probe im Oktober noch das bekannte Bild der Hexen im Wald vor meinem inneren Auge erzeugt. Wenn ich während der Vorstellung heute meine Augen schließe, sehe ich den Chor genau in der Rolle, in der Balázs Kovalik ihn konzipiert hat. Mit ihren Stimmen manipulieren die Sängerinnen nicht nur Macbeth, sondern auch den Zuschauer. Sie bestimmen das Bild, das in den Köpfen der Zuschauer entsteht.
Die lange Vorbereitungszeit von über einem halben Jahr ist mit der Premiere zu Ende, sieben weitere Vorstellungen folgen. Und der opulente, Gänsehaut erzeugende Gesang der Chordamen beweist: Er ist jede Minute Vorbereitung wert.