Wie ein großes Puzzle

hautnah ist die erste von drei Produktionen, die im Rahmen des gemeinsamen Projekts STOFF des Theaters Bielefeld mit dem freien Künstlerkollektiv »recherchepool« entstanden ist. Die »recherchepool«-Mitglieder Kathrin Ahäuser und Konrad Kästner sind für die Foto- und Videoinstallationen verantwortlich. Über ihre Mitarbeit an dem multimedialen Tanzabend sprachen sie mit Britta Zachau, Koordinatorin des Online-Magazins zum Projekt STOFF.

Wie seid ihr zum Theater gekommen?

Kathrin: Ich bin Fotografin und arbeite hauptsächlich dokumentarisch und multimedial. Vier Jahre lang habe ich in Bielefeld Fotografie studiert, mittlerweile lebe ich in Dortmund. Vor einiger Zeit hat mich Tobias Rausch von der Künstlergruppe »recherchepool« zu einem Fotoprojekt interviewt – so ist der Kontakt zum Theater entstanden und so bin ich auch zum STOFF-Projekt gestoßen.

Konrad: Ich habe Filmregie mit dem Schwerpunkt Dokumentarfilm an der Filmuniversität Babelsberg studiert. Schon während des Studiums habe ich Kontakte zu Schauspielklassen und Theaterregisseuren geknüpft. Später wurde ich gefragt, ob ich Videoprojektionen für das Theater machen möchte – und das hat sich während der letzten acht Jahre zur meiner Haupttätigkeit entwickelt. Ich hatte schon oft in Bielefeld gearbeitet, als ich im Rahmen des Recherchetheaterstücks Dunkle Materie Tobias Rausch, den künstlerischen Leiter des STOFF-Projektes, kennengelernt habe.

Wie nähert sich hautnah dem Thema STOFF? Welche Aspekte werden beleuchtet?

Kathrin: Da ich mich in den letzten Jahren viel für Nachhaltigkeit in der Mode interessiert habe, habe ich diesen Aspekt aufgegriffen. Ich habe zunächst in Köln, Düsseldorf und Berlin recherchiert, was für alternative Möglichkeiten es gibt, Kleidung fair herzustellen. Die Gedanken der Konsumkritik habe ich dann mit den Tänzern inszeniert. Was die Arbeiten von Konrad und mir verbindet, ist diese Gesellschaftskritik – gelegentlich auch mit einem Funken Humor.

Konrad: Ich habe die Beziehung zwischen Mensch und Maschine beleuchtet. Der Textil- und Bekleidungsbereich ist einer der wenigen, die nicht komplett maschinell gesteuert sind. Irgendwo in dem Schaffensprozess muss immer ein Mensch anwesend sein. Ich habe aber gemerkt, dass in deutschen Fabriken die Maschinen einen Großteil der Arbeit machen und die Menschen nur dazu da sind, den Maschinen behilflich zu sein. Ich möchte mit meiner Arbeit zeigen, dass die Maschinen auch etwas Organisches haben und in einer gewissen Art und Weise zum Leben erwachen können. Der Mensch wiederum wird ein Stück weit zur Maschine. Das meine ich aber gar nicht negativ, da es einfach nicht anders geht. Die Menge, die wir an Stoff brauchen, kann man nicht per Hand produzieren. Dazu ist die Konsumlandschaft viel zu schnelllebig und verlangt immer nach dem neuesten Schnitt. Die Choreografie von Simone Sandroni greift diesen Gedanken auf und stellt eine Parallele her zur menschlichen Evolution: Wie sind wir Menschen aus Tieren entstanden und was macht uns als Menschen aus? Wenn alle diese Aspekte zusammenkommen, wird deutlich, dass alles, was Menschen machen, eine gewisse Notwendigkeit hat. Auch die Herstellung von Kleidung hat eine große Bedeutung.

Kathrin: Und daran knüpft wiederum der Konsumgedanke an: Es wird ja immer mehr produziert, um den Umsatz zu steigern. Es gibt mittlerweile viel mehr Modesaisons als Jahreszeiten. Es geht heute weniger darum, ein Kleidungsstück lange zu tragen und zu schätzen, sondern darum, Trends mitzumachen. Man hat das Bedürfnis nach Shopping. Das wollte ich in meinen Bildern durchscheinen lassen.

 

Was ist euch bei der Recherche im Gedächtnis geblieben?

Konrad: Ich war in einer alten Fabrik, die Maschenstoffe herstellt: Das sind Stoffe, die nicht gewebt, sondern gestrickt werden. Die Fabrik ist insofern einzigartig, weil die Maschinen nicht computergesteuert sind. Jeder, der schon mal gestrickt hat, weiß, wie man verschiedene Muster gestalten kann. Das wird dort von Maschinen gemacht, die aber alle von Hand »programmiert« werden. In kleine Walzen gehören Metallstifte, die der Maschine anzeigen, wann welcher Faden eingezogen werden muss. Der Leiter der Fabrik setzt diese Stifte alle selbst. Allein er weiß, wie er die Walzen mit den Stiften bestücken muss, um ein bestimmtes Muster zu erzeugen – ein Vorgang, den man als Außenstehender nur schwer nachvollziehen kann. Wenn der Fabrikleiter in Rente geht, gehen dort die Lichter aus. Er hat keinen Lehrling gefunden, niemanden, an den er das Wissen weitergeben kann. In wenigen Jahren wird diese Kunst verloren sein.

Kathrin: Ich habe viele sehr unterschiedliche Designer getroffen. Jeder produziert auf seine eigene kreative Art Kleidung. Eine Designerin nutzt beispielsweise Ananasfasern. Ein anderer verwendet alte Arbeitskleidung wie Blaumänner und Warnwesten, um daraus Designerstücke herzustellen – dabei bleiben die Löcher und Flecken bewusst sichtbar.

Wie verlief der Entstehungsprozess von hautnah? Was waren die größten Herausforderungen?

Konrad: Im Frühjahr 2017 sind alle Beteiligten für ein erstes Gespräch zusammen gekommen. Im Abstand von ein, zwei Monaten haben wir immer wieder die neusten Entwicklungen besprochen und Ideen ausgetauscht. Im November haben die Tänzer angefangen, zu proben – ein vergleichsweise langer, luxuriöser Zeitraum, normalerweise bleiben nur sieben bis acht Wochen dafür. Im Fall von hautnah ist es ja aber ein wenig komplexer, die verschiedenen Aspekte – Choreografie, Video, Foto und Musik – unter einen Hut zu bekommen. Wir wollten nicht nur schöne, flackernde Hintergrundbilder erzeugen, sondern auch einen Kontext aufbauen. Da Tanz im Gegensatz zu Schauspiel oder Musiktheater eben nicht über das Mittel der Sprache verfügt, mussten unsere Inhalte assoziativer eingeflochten werden. Sowas kann man nicht mit der Brechstange machen. Wir geben nicht vor, wie die Zuschauer das Stück interpretieren sollen, und erheben auch nicht den moralischen Zeigefinger.

Kathrin: Was ich sehr interessant finde, ist, dass die Tänzer auf einen Rhythmus trainiert haben, ohne die tatsächliche Musik zu kennen. Es gelingt ihnen später, ihre Bewegungen auf die Musik, die Vivan und Ketan Bhatti Stück für Stück entwickelt haben, zu übertragen. Das ist faszinierend. Auch wir müssen uns natürlich nach der Musik richten, da die die Schnelligkeit, den Start- und Endpunkt vorgibt. Es bedingt sich alles gegenseitig. Ich glaube, dass es toll ist, dass sich bei einem solchen Projekt jeder einbringen kann, aber man muss sich trotzdem bemühen, den roten Faden zu behalten und zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Mittel einsetzen.

Konrad: Im Endeffekt sind alle Teile erst wenige Wochen vor der Premiere das erste Mal zusammengekommen. Natürlich haben wir schon vorher sehr viel Material zusammengestellt, aber ein Timing konnten wir erst mit der fertigen Musik und der fertigen Choreografie erarbeiten. Doch auch danach hat sich immer wieder etwas geändert. Die Arbeit an so einem Stück ist ein Entstehungsprozess bis zur letzten Minute vor der Premiere.

Kathrin: Es ist wie ein großes Puzzle. Es werden ständig Teile verschoben und Stimmungen angepasst. Die Tänzer haben nicht nur ihre Choreografie, sondern sie sind auch dafür verantwortlich, das Bühnenbild umzubauen. Diese Abläufe flüssig erscheinen zu lassen, ist das Schwierigste.

Was hat euch am meisten Spaß gemacht?

Konrad: Wenn alles funktioniert und das Timing stimmt, ist das ein richtig toller Moment!

Kathrin: Ich finde es immer faszinierend, was die Tänzer körperlich leisten. Wenn man ein Stück sieht, bekommt man ja nichts davon mit, was für Anstrengungen dahinter stehen. Es werden ja auch immer parallel andere Stücke am Haus aufgeführt und vorbereitet. Und trotzdem sind die Tänzer immer bei guter Laune und kommen voll motiviert zum Training. Das finde ich sehr bewundernswert!

Warum sollte man sich hautnah unbedingt anschauen?

Kathrin: Das Stück, besonders Konrads Videoaufnahmen, haben einen starken Bezug zu Bielefeld und sind sehr aktuell. Insgesamt ist hautnah sehr zeitgemäß. Es spiegelt unsere Gesellschaft wider, in der uns teilweise die Kontrolle über den Stoff verloren gegangen ist.

Konrad: Aus meiner Sicht ist ein großer Mehrwert von diesem Abend, dass ein Thema, dass identitätsstiftend für diese Stadt ist, auf eine neue Weise aufgegriffen wird – nicht wissenschaftlich, sondern als ästhetischer Genuss.

Tipp: Weitere Inspirationen zum Thema Stoff findet ihr auch auf dem Blog und auf der Facebookseite von STOFF, das gemeinsame Projekt des Theaters Bielefeld mit »recherchepool«.

Fotos © Kathrin Ahäuser

Video © Konrad Kästner