50 Jahre Extrachor

Interview mit Marita Schwetge

Marita Schwetge ist seit 50 Jahren – seit der Spielzeit 1972/73 – Mitglied des Extrachors. Genau heute, am 19. September 2022, jährt sich die allererste Premiere, an der sie beteiligt war, zum 50. Mal. Jessica Tiekötter, Referentin für Online-Marketing des Theaters, hat sich mit Marita darüber unterhalten, was sie seit 50 Jahren an diesem Hobby begeistert und was sich seit damals verändert hat.

Marita Schwetge (2. v.l.) im Jahre 1972 hinter den Kulissen ihrer ersten Produktion »Die Meistersänger von Nürnberg«.

J: Marita, erzähl doch erst einmal, was das Singen für dich bedeutet?

M: Singen ist einfach eine Befreiung. Es lässt einem von anderen Dingen ein bisschen Freiraum, also dass man wirklich aus dem Alltag aussteigt und etwas ganz anderes macht. Wenn man mal Tage hat, wo es nicht so läuft, und dann gesungen hat, stellt man fest: ‚Jetzt bin ich wieder geerdet‘. Und ich bin jetzt seit über 40 Jahren mit meinem Mann zusammen und so hat jeder auch seinen Freiraum. Er kommt dann und guckt, was ich mache, aber man kann sich dann auch gegenseitig erzählen, was man gemacht hat, und läuft nicht immer miteinander. Jeder hat seine Sachen und bei mir war das immer das Singen.

J: Ist das für dich ein Unterschied, ob du zuhause für dich singst oder professionell am Theater?

M: Total! Zuhause, da trällert man mehr oder weniger. Da weiß man auch mal den Text nicht, steigt aus, summt nur noch. Und hier ist das immer mit einer gewissen Konzentration verbunden. Ein Chordirektor hat mal gesagt: ‚Wisst ihr, ihr müsst das schon richtig können. Dem Publikum ist das egal, wer da vorne steht. Die haben viel Geld bezahlt und das muss ordentlich sein.‘ Ich hab auch ein hohen Selbstanspruch. Ich kann das nicht wie ein Profi, aber so mit meinen Möglichkeiten schon wirklich gut abliefern und da tut man auch viel für.

J: Und was hat dich hier zum Extrachor gebracht; wie bist du hier gelandet?

M: Ganz zufällig. Meine jüngere Schwester war hier als Statistin und es war damals schon so, dass die, wenn sie noch nicht volljährig waren, von jemandem abgeholt werden mussten, damit sie überhaupt hier mitmachen dürfen. Also saß ich immer in der Kantine, genau wie der Chordirektor, der irgendwann sagte, er bräuchte für Meistersinger noch Leute und ob ich denn nicht singen könnte. Für mich war das erst keine Option hier im Theater. Ich war gerade wieder in einer Berufsausbildung, das hier war nicht meine Welt und die Zeit hatte ich auch nicht.
Als er meinte, er bräuchte einen Sopran, hab ich geantwortet ‚ich singe aber Alt‘ und dann sagte er, er braucht auch Alt. Ich hab daraufhin meine ältere Schwester hingebracht, die studierte tatsächlich Musik, und eine, die damals im Volkschor, heute Oratorienchor, gesungen hat. Wir sind zu einer Probe hin, ich hab gesagt ‚hier ein Sopran und ein Alt‘ und wollte gehen. Aber an dem Tag war furchtbares Wetter, es regnete die ganze Zeit und der Chordirektor meinte, ob ich nicht lieber da bleiben will. Ja und jetzt bin ich immer noch da.

Maritas erster Extrachor-Ausweis.

J: Wahnsinn, das heißt, er hat dich also doch noch überredet, es zu probieren. Und was hat dich dann 50 Jahre dort gehalten?

M: Dieses in eine andere Welt eintauchen. Der Abstand zum Alltag. Wenn ich von der Arbeit gekommen bin und hier hinkam, dann hatte der Job keine Zeit mehr in meinem Kopf. Ich bin abends nicht damit ins Bett gegangen, sondern mit der Musik. Weil man ja auch mit allem dabei sein muss. Mit dem Kopf, mit dem Körper, also da kann man nichts draußen lassen.

J: Wie oft probt ihr denn?

M: Wenn wir ein Stück anfangen, einmal die Woche. Das wird natürlich immer dichter, je näher man an die Premiere kommt, oder wenn es besonders schwierig ist. Und früher, wenn wir so drei, vier Stücke gleichzeitig hatten, dann überschnitt sich das ja auch.

J: Wo du jetzt auf die Stücke zu sprechen kommst, gibt es denn irgendwas, was dir ganz besonders im Gedächtnis geblieben ist? Irgendein Stück, das irgendwie außergewöhnlich war?

M: Was mich immer fasziniert hat, war Tannhäuser. Die Musik und der Ablauf des Stückes sind für einen Chor unheimlich schön.
Und für mich persönlich Traviata. Ich war zweimal sehr krank und bin durch die Traviata eigentlich immer wieder gesund geworden. Ich bin hier aufgeschlagen mit null Energie, weil der Körper so runtergefahren war, dass eigentlich nichts mehr ging. Aber ich hatte zweimal das Glück, dass sowohl der*die Chordirektor*in als auch die Regie das mitgetragen haben. Ich bin damit sehr offen umgegangen und hab bei der letzten Traviata gesagt, ich kann eigentlich nur gerade stehen und geradeaus gehen, sonst nichts. Dann war da Nadja (Anm.: Nadja Loschky, Künstlerische Leiterin Musiktheater) und hat gesagt: Wir probieren es mal. Das war für mich das Ziel, das man ja haben muss: ‚Da will ich wieder hin.‘ Von daher war die Bühne immer mein Lebenselixier, immer! Es hat mich durch alle Tiefen im Leben immer positiv begleitet.

J: Wo du jetzt schon so lange dabei bist, hast du besondere Veränderungen mitgekriegt, sei es jetzt im Ablauf für die Stücke oder auch direkt im Extrachor; irgendwas, was jetzt anders funktioniert?

M: Ja, damals hatten wir viel mehr Zeit für die Stücke. Viel mehr Proben. Da muss man heute viel in Eigenarbeit machen. Und es ist dichter geworden, irgendwie. Man merkt das auch im ganzen Haus, es ist teilweise ziemlich anstrengend. Man muss wirklich das Ziel im Auge haben, da ist manchmal gar nicht viel Zeit für rechts und links. Früher haben wir Feste miteinander gefeiert, sind nach den Proben zum Stammtisch, es war immer super Stimmung. Man hatte auch viel mehr Kontakt zu Solist*innen und Orchester. Ich glaube aber nicht, dass das an der Mentalität liegt. Es ist einfach der Zeit geschuldet, dass sich das so verändert hat.

J: Gab es denn damals einfach weniger Stücke pro Saison oder …?

M: Nein, viel mehr. Gerade im Musiktheater. Aber es waren auch viel mehr Leute, mehr Solist*innen. Da musste nicht jeder das ganze Repertoire bedienen, sondern es wurde einfach viel ausgetauscht, weil mehr Leute da waren. Das waren schon echte Erlebnisse! Diese Ausgrabungen wie Transatlantik und Der singende Teufel und Die Jüdin, da waren wir zu den Maifestspielen sogar nach Wiesbaden eingeladen. Und mit Transatlantik waren wir in Düsseldorf. Früher sind wir auch getingelt, haben zum Beispiel mal in Minden gesungen. Es hat sich schon einiges verändert.

J: Und würdest du sagen, du selbst hast dich auch verändert, also wie du den Extrachor angehst oder deine Art, wie du dich vorbereitest oder so?

M: Ja klar, weil ganz andere Anforderungen gestellt werden. Wie gesagt, früher bin ich nur zu den Proben gegangen und hab das da gelernt, nicht zuhause.

J: Und deine Stimme?

M: Die ist natürlich schon professioneller geworden. Hagen Enke (Anm.: Chordirektor), mit dem wir schon fast 20 Jahre arbeiten, macht mit uns immer ein Einsingen und achtet drauf, dass die Stimme sitzt. Aber ich hab immer 2. Alt gesungen, da kann man auch relativ lange singen. Im Sopran ist so eine Stimme nach 50 Jahren vielleicht nicht mehr so wie früher.

Marita (Mitte) hinter den Kulissen von »La Bohème« im Jahre 1978.

J: Um wieder in die Gegenwart zu kommen: In was für einer Produktion können wir dich bzw. den Extrachor denn als nächstes sehen?

M: Eugen Onegin. Und das ist eine echte Herausforderung, das ist auf Russisch. Da haben wir jetzt schon den ganzen Sommer Audiodateien gehabt, in denen der Text vorgesprochen wurde. Ich hab die ganzen Sommerferien geübt, damit das bereits beim Festlichen Auftakt saß.

J: Das ist bestimmt ein seltsames Gefühl, wenn man die Sprache selbst gar nicht spricht und nicht so ganz versteht, was man da überhaupt singt, oder?

M: Da wir seit Jahren nur noch in Originalsprache singen, gewöhnt man sich dran und wenn man den Inhalt des Stückes kennt, geht das schon. Aber wir singen ja auch überwiegend Italienisch oder Französisch. Das ist ganz selten, dass wir mal was Deutsches singen.

J: Aber trotzdem eine ganz schöne Leistung. Und wenn jetzt jemand sagt, ‚da möchte ich auch mitmachen‘, wie kommt man denn bei euch rein?

M: Auf der Homepage unter Team gibt es den Punkt ‚Extrachor‘ und da steht die E-Mailadresse von unserem Chorsprecher. An den kann man sich wenden und der leitet das weiter an Hagen Enke. Vor allem wäre es toll, wenn noch ein paar Männer dazukämen, wir sind deutlich mehr Frauen. In dieser Spielzeit sind wir zum Beispiel noch bei Parsifal dabei, da werden viele Männerstimmen benötigt. Und man unterschreibt ja keinen festen Vertrag oder so. Wenn man irgendwann feststellt, dass man das zeitlich nicht mehr leisten kann oder will, ist das auch okay.

J: Aber es gibt doch bestimmt auch einige, mit denen du seit Langem schon zusammen im Extrachor bist?

M: Ja, zum Beispiel Birgit Matthäus, die ist ja 40 Jahre hier. Oder Corinna Vogt seit 36 Jahren, ihre erste Premiere war tatsächlich Transatlantik. Ach, da sind schon einige, die auch so 20 Jahre dabei sind. Und was ich immer wieder faszinierend finde, was ich bei mir selbst immer noch merke: Ich weiß ja nun wirklich, wie das hinter der Bühne abläuft und alles. Aber wenn ich eine Inszenierung sehe und die mich wirklich fesselt, dann tauch ich komplett in diese Welt ein. Ich hab eine blühende Fantasie und kann mich dann wirklich wegtragen lassen. Obwohl ich das Spektakel dahinter total auswendig kenne und genau weiß, ‚ach jetzt stehen die dahinten Schlange‘, aber das ist in dem Moment weg!

J: Das finde ich besonders schön, wenn das noch geht.

M: Ja das ist immer wieder unglaublich.

v.l.: Birgit Matthäus (seit 40 Jahren im Extrachor), Jón Philipp von Linden (Musiktheater-Dramaturg), Marita Schwetge und Nadja Loschky (Künstlerische Leiterin Musiktheater) bei der Ehrung im Anschluss an die letzte Vorstellung von »La Bohème« am 28. Juni 2022.

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