In jede Figur hineingedacht

Dear World-Hauptdarstellerin Frederike Haas im Gespräch mit Dramaturgie- und Regiehospitantin Paula Brune.

P: Du bist normalerweise als Darstellerin auf der Bühne zu sehen und jetzt bei Dear World auch Übersetzerin. Wie kam es dazu, dass Du begonnen hast, zu übersetzen?

F: Ich entdecke manchmal englischsprachige Lieder aus Jazz und dem amerikanischen Musiktheater, die ich dem deutschen Publikum gerne nahebringen würde. Ich mag die Musik, aber ich mag auch unsere deutsche Sprache sehr, und so habe ich vor einigen Jahren angefangen, einzelne Songs zu übersetzen.

P: Wie bist Du auf Dear World gestoßen und auf die Idee gekommen, das ganze Musical zu übersetzen? Was hat Dich daran besonders gereizt?

F: Das war auch im Zusammenhang mit meiner Recherche nach Songs für mein nächstes eigenes Programm. Ich stieß plötzlich auf das Titellied Dear World und dachte: Wann und wo hat schon mal jemand ein Lied direkt an die Welt gesungen? Und wie aktuell dieser Text noch dazu ist! Das machte mich neugierig auf die anderen Songs des Albums, und schließlich auf das ganze Stück. Anfang des Jahres, als ich hier am Theater noch in The Goodbye Girl spielte, saß ich einmal mit Jón Philipp zusammen und erzählte ihm von meiner Entdeckung und meinen Übersetzer-Ambitionen. Er wurde genauso neugierig auf das Stück und empfahl mir, mich mit meinen bisherigen Song-Übersetzungen bei Verlagen zu bewerben. Das tat ich.

Parallel dazu forschte er weiter bzgl. Dear World und stellte fest, dass das Stück tatsächlich sehr interessant für Bielefeld ist, kontaktierte den Verlag Felix Bloch Erben und beantragte die Aufführungsrechte. Es ist wirklich ein großer Glücksfall: Meine ‚Entdeckung’ kam zum richtigen Zeitpunkt, fiel hier auf fruchtbaren Boden und erfüllte noch dazu alle Kriterien der Umsetzbarkeit an diesem Haus. Also fingen Melanie Haupt und ich gleich an zu übersetzen, Anfang April kamen die Rechte aus Amerika, und am ersten Mai sollten wir die Übersetzung spätestens abgegeben. 


P: Wie kam die Zusammenarbeit mit Melanie Haupt zustande?

F: Ich bin mit Melanie durch unsere Jurytätigkeit beim Bundeswettbewerb Gesang ins Gespräch gekommen. Wir hatten uns darüber ausgetauscht, was uns interessiert, was wir im Musiktheater erzählen möchten, und wie wir das zukünftig angehen könnten. Sie ist ebenfalls Schauspielerin und Sängerin, vor allem aber auch Komödiantin und Autorin. Ich wollte gerne mit ihr zusammen die Pointen und den Sprachwitz des englischen Originals auf Deutsch heraus kitzeln. Sie bereitete also die Dialoge und ich die Songtexte vor, und dann haben wir uns immer wieder getroffen, besprochen, und Schicht um Schicht tiefer rein gearbeitet. Die Liedtexte habe ich allein noch weiter unter die Lupe genommen.

P: Übersetzung ist letztlich ja auch immer ein bisschen Interpretation. Was war Dir dabei besonders wichtig und was waren Aspekte aus der englischen Fassung, die Du auf jeden Fall transportieren wolltest, die aber nicht unbedingt nur etwas mit direkter Übertragung zu tun haben?

F: Übersetzungen sollten möglichst keine Interpretation sein. Man hat die Aufgabe vom Verlag, eins zu eins die Sprache der originalen Autor*innen wiederzugeben und nichts zu verändern. Deshalb ist der erste Entwurf auch immer ein wörtlicher, bevor es dann sprachlich geschmeidig, spiel- und singbar gemacht wird – uns war es besonders wichtig, diese skurrilen, liebenswerten Figuren in diesem Stück herauszuarbeiten. Wir haben uns als Schauspielerinnen in jede einzelne Figur hineingedacht und versucht, aus ihr heraus die passende Sprache für sie zu finden. Bei Jerry Hermans Liedtexten war mir besonders wichtig, seiner Poesie, seinen Binnenreimen, Alliterationen und seinem Sprachwitz möglichst gerecht zu werden. Es muss ja nachher inhaltlich und formal passen.

Bei Müll war ein Vergnügen zum Beispiel, bei der Aneinanderreihung von einzelnen Utensilien, die der Abwasserkanal-Mann im Müll findet, schaut man zuerst, wofür diese Utensilien stehen. Und wenn die wörtliche deutsche Übersetzung von der Silbenanzahl her nicht passt, dann nimmt man eben ein rhythmisch passendes Äquivalent. Da Jerry Herman sowohl Komposition als auch Liedtexte geschrieben hat, sind Musik, Sprachrhythmus und Sprachmelodie besonders eng verknüpft. Das auf Deutsch hinzukriegen, ist knifflig, weil unsere Sprache anders funktioniert und Englisch oft viel knapper ist. Aber ich mag Herausforderungen. Wie knifflige Rätsel.

P: Habt Ihr Euch nur an der direkten Vorlage, also der revidierten Fassung von 2006, orientiert oder auch mit der Originalfassung des Musicals von 1969 und dem Stück von Giraudoux gearbeitet?

F: Wir haben uns die deutsche Übersetzung des französischen Schauspiels auch genau angeschaut und dadurch noch deutlich mehr Informationen über die Figuren und das Stück bekommen, was ich fürs Übersetzen wichtig finde. Auch zu wissen, woraus ein Song entstanden ist, war hilfreich. Erst nachdem wir mit unserer Übersetzung fast fertig waren, haben wir auch noch das Musicalscript von ’69 gelesen, um den Weg vom Schauspiel bis zur revidierten Musicalfassung besser nachvollziehen zu können.

P: Wie war es für Dich, wenn bei den Proben nochmal kleine Änderungen gemacht werden mussten, besonders bei den Songtexten?

F: Kein Problem. Es gibt tiefe Ebenen einer Figur, die man erst im physischen Spielvorgang spürt. Im eigenen Wohnzimmer kommt man zwar der Figur nahe, aber in die Tiefe gelangt man erst auf der Probebühne mit Kolleg*innen, der Musik und der Regie. Daher gab es im Probenprozess natürlich auch einzelne, leichte Anpassungen wie „vergisst“ anstatt „versäumt“, weil das noch stimmiger war.

P: Fühlt es sich freier an, auch als Darstellerin in so einer Erstaufführung etwas ganz Neues machen zu können, oder ist es ein größerer Druck?

F: Ich würde sagen beides. Kaum jemand hat damals das Stück und Angela Lansbury in dieser Rolle gesehen. Ich kann also nur wenig verglichen werden, und das heißt, ich kann selbst neu kreieren und neu entdecken. Das empfinde ich als eine große Freiheit. Aber es braucht natürlich andererseits auch immer viel Mut, etwas Unbekanntes neu herauszubringen. Viele Intendant*innen setzen nach wie vor lieber auf Stücke, die dem Publikum bekannt sind, weil sie auf eine höhere Besucherzahl hoffen.

So gesehen beweist das Theater Bielefeld mit seinem Spielplan aus Neuem sowie Bekanntem wirklich großen Mut und Zuversicht. Das finde ich aber auch klug und wichtig, denn die Zuschauer-Generationen verändern sich ja, und die Theater müssen ihr bisheriges Publikum mitnehmen, aber auch neues begeistern und erobern. Theater ist ein Dokument der Zeit und ein Spiegel der Gesellschaft. Dear World ist zwar hierzulande noch unbekannt, doch trotz seiner Entstehung vor so vielen Jahren ist es erschreckenderweise so aktuell wie wenige andere Musicals, die z. Z. gespielt werden. Insofern finde ich es großartig, dieses Stück genau jetzt auf den Spielplan zu setzen.

P: Wie war es für Dich, in diese Premiere zu gehen und das Stück zum ersten Mal zu zeigen?

F: Es war ein magischer Moment. Ich war sehr nervös, doch auch froh, dass wir schon in der Generalprobe zum ersten Mal Publikum hatten, das gut reagiert hat. Das hat uns alle irrsinnig bestärkt. Diese Premiere war für mich besonders aufregend, weil ich mich eben in zwei Funktionen bei dieser Produktion zeige. Aber wie vor jeder Vorstellung konzentriere ich mich als Darstellerin in den drei Stunden vor Beginn nur noch auf meine Rolle, und dann gehe ich ab dem ersten Auftritt nur noch von Moment zu Moment. Und wenn das Publikum dann reagiert, spürt man seine tragende Energie und bleibt nicht mehr im luftleeren Raum hängen. Es entsteht ein gemeinsamer Atem, ein Dialog, ein Austausch, und dann kann eigentlich nichts mehr passieren.

P: Du kennst Thomas Winter schon länger und hast bereits mit ihm gearbeitet. Wie ist die Zusammenarbeit mit ihm und dem Ensemble?

F: Thomas ist ein wunderbarer Regisseur. Man spürt, dass er die Prozesse der Rollenerarbeitung aus eigener Erfahrung im Detail kennt, da er selbst ein fantastischer Schauspieler und außerdem inzwischen ein erfahrener Regisseur ist, der insbesondere auf die Figurenführung, Dialogregie und die Inhalte setzt. Er gibt Raum, beobachtet, erkennt, trifft klare Entscheidungen, kann unterstützen, die Vorgänge besser herauszuarbeiten, und er vertraut seinen Leuten. Wir sind in diesem Ensemble eine wunderbare, bunte Mischung aus Darsteller*innen mit unterschiedlicher Herkunft und Erfahrung aus Schauspiel, Oper, Musical und Tanz. Wir sind also verschiedene Darstellertypen und haben unterschiedliche Herangehensweisen. Das gilt es, zusammenzuführen.

Thomas hat für verschiedene Arbeitswege nicht nur Verständnis, sondern auch ein gutes Gespür und weiß, wer was braucht. Das alles macht einen guten Regisseur aus. Zudem kreiert er mit seinem Team eine positive, konzentrierte und auch humorvolle Atmosphäre, pflegt den wertschätzenden gegenseitigen Umgang sehr, sodass alle gut miteinander fungieren und sich voll einbringen können. Ich glaube, alle an dieser Produktion Beteiligten suchen so ein Arbeiten, haben es hier vorgefunden und daher als sehr beglückend erlebt, und jede*r von uns war mit sehr viel Herzblut dabei. Das ist wirklich nicht selbstverständlich.

Besonders in diesen Zeiten voller Krisen, Herausforderungen, Ungreifbarkeiten und permanenter Angespanntheit, die jede*r von uns persönlich als nicht einfach empfindet. Wie macht man in solchen Zeiten Theater? Ist der eigene Beruf „systemrelevant“…? Wohin entwickelt sich gerade alles? Und dann kommen so ein Stück und ein mutiges Theater daher, das uns die Möglichkeit gibt, zu zeigen, welche Relevanz unser Beruf und Schaffensort hat, und dass gemeinsames Investieren von Herzblut sich lohnt. Das ist unglaublich befriedigend.

P: Wie bist Du als Darstellerin an dieses Stück und an deine Figur herangegangen?

F: Am Anfang war ich mir unschlüssig, wie wir das Stück umsetzen würden und wie ich meine Aurélia anlegen könnte. Welche Spielform braucht es? Wie geht man mit Aurélias „Irre-Sein“, mit ihrem Alter um? Thomas hatte zu Beginn auch verschiedene Ideen der Umsetzung im Kopf. In der ersten Woche haben wir dann gemeinsam geforscht und geschaut, was sich ergibt.

Am besten funktionierte, ganz klar vom starken Text auszugehen und eine klare Spielform auf hohem Energieniveau zu wählen. Ich spürte, wie sehr Aurélia die Triebfeder und der Anker für alle um sie herum ist, wie stark, resolut und überzeugt sie davon ist, dass alles gut wird, und wie entschieden sie darin ist, glücklich zu sein. Außerdem wurde immer deutlicher, dass Aurélia in Nina ihr eigenes junges Ich sieht, dass im Grunde die Beziehung von Nina und Julien die Wiederholung ihrer eigenen Liebesgeschichte mit Adolphe Bertaut ist. Was das genau damals mit diesem Adolph Bertaut war, steht nicht im Stück. Das habe ich mir selbst kreiert, um zu wissen, was bei Aurélia emotional drunter liegt und ihr Tun bestimmt.

P: Hast Du für Dich oder gemeinsam mit Thomas diese Geschichte vervollständigt, oder habt Ihr bewusst Lücken gelassen?

F: Wir haben bewusst ein paar Lücken gelassen und sind zunächst nicht zu psychologisch vorgegangen. Ich habe auch Assoziationen, die teilweise ein bisschen anders sind als die, die Thomas von außen sieht. Aber das ist ja das Geheimnis von Theater: Auf der Bühne erzählt sich etwas intensiv, und die Zuschauer*innen empfinden, assoziieren und entscheiden selbst, was sie darin lesen. Das ist wunderbar. Theater soll ja Gedanken- und emotionale Räume öffnen. Und wenn das gelingt und jede*r Zuschauer*in individuell etwas für sich darin sieht und mitnimmt, ist es genau das, was wir erreichen wollen. Ich habe natürlich in den Proben Entscheidungen für meine Aurélia getroffen, bin in den Vorstellungen aber dann stets weiter am Forschen und Vertiefen. Eine Figur hat viele Lagen. Man sieht manchmal primär nur ihre Oberfläche, und dann öffnet sich plötzlich eine Klappe, in die sie hineinschaut und reingeht.

Das passiert vor allem ab den Stückablauf-Proben, und so entdeckt man noch mehr von dem, was unten drunter liegt und dann hervorkommt. Z.B. Aurélias Schutzlosigkeit, Zweifel, Bedürftigkeit, ihr schmerzlicher Verlust, aber auch ihre kindliche Freude, die sie sich immer erhalten hat. Dieses Stück und seine Figuren haben viele plötzliche Brüche. Vieles kommt scheinbar unvermittelt. Ich kann beim Agieren wenig aus einer Szene mit in die nächste nehmen und entwickeln. Es ist ein bisschen wie mit den Schubladen, die Aurélia in ihrem Kellerzimmer hat. Toto, unser Ausstatter, meinte, dass sie darin vielleicht ihre Erinnerungen aufbewahrt, und so sind es also lauter einzelne Schubladen, die scheinbar keine Querverbindungen haben. Eine solche Rolle, mit so schnellen Wechseln in den Registern, habe ich bislang so noch nicht gespielt, und jetzt macht mir das riesigen Spaß (lacht). Vor allem zusammen mit meinen Kolleg*innen.

Nach der Probenphase und der Premiere geht ja die spannende Reise mit der Rolle weiter und ich werde sehen, was Aurélia mir noch alles erzählen wird und was noch alles in ihren Schubladen schlummert. Diese Reisen mit der Rolle sind es, die mich an meinem Beruf so reizen und immer wieder faszinieren.

P: Was nimmst Du für Dich von Aurélia mit?

F: Im Moment habe ich das Gefühl, dass Aurélia mir hauptsächlich zuruft: „Hab Mut!“ Das ist für mich einer ihrer wichtigsten Schlüsselsätze, den sie in die Welt transportiert. Und Mut wird genährt durch Liebe und Vertrauen engster Freunde.

Ich bin gespannt, was sich jetzt beim weiteren Spielen noch dazu herauskristallisieren wird. Manchmal kann man auch im Rückblick, nachdem man eine Rolle gespielt hat, besser benennen, was die Rolle einem beigebracht hat. Jetzt gerade ist es hauptsächlich: „Hab Mut! Hab Mut, im Hier und Jetzt zu leben und zu lieben! Hab Mut, für das, was Dir im Leben wichtig ist, zu kämpfen; denn ein Einzelner kann viel bewirken, was womöglich allen zugutekommt!“

 

Alle Infos und Termine zum Stück gibt es hier.