IM RAUSCH oder: Sich gemeinsam in der Erschöpfung verlieren

Der Beitrag entstand im Oktober 2020 für das Programmheft zur Uraufführung. »Im Rausch« wurde zwei Mal live und vor Publikum gezeigt, ehe der Vorstellungsbetrieb an den Bühnen und Orchester der Stadt Bielefeld wieder eingestellt werden musste. Vom 15. Mai 2021 bis zum Ende der Spielzeit ist der Tanzabend an mehreren Terminen als Videostream zu erleben.

Szenenfoto aus »Im Rausch«
Foto © Joseph Ruben

Selten wurde eine Spielplanentscheidung in der Tanzsparte so intuitiv und einstimmig getroffen wie diese. Nach zwei Monaten der sozialen Distanzierung, des hypothetischen Über-Tanz-Sprechens und der virtuellen Tanztrainings war es ein Segen, endlich wieder ins Theater gehen zu dürfen. Wieder miteinander kreativ zu sein. Und vor allem: wieder gemeinsam zu tanzen. Choreografien entstehen nun einmal nicht vor dem heimischen Computerbildschirm. Für die überbordende Energie, die sich in den ersten Tagen im Tanzsaal Bahn brach, für alle aufgestauten Gefühle fehlte uns Ende Mai noch unser Gegenüber, das Publikum – doch warum diese Energien nicht in einen Tanzabend kanalisieren, den wir zur Aufführung bringen, wenn Vorstellungen wieder erlaubt sind? Gesagt, getan: Der Rausch als Zustand radikal verdichteter Emotionen wurde uns für die folgenden Wochen über die Sommerpause hinaus zum künstlerischen Forschungsfeld.

Es mag wohl keinen Gemütszustand geben, dem eine rationale und verallgemeinernde Begriffsbestimmung mehr zuwiderliefe als diesem. Nichtsdestotrotz soll der Duden hier kurz zurate gezogen werden. Er definiert den Rausch als einen »übersteigerte(n) ekstatische(n) Zustand; Glücksgefühl, das jemanden über seine normale Gefühlslage hinaushebt«. Schlägt man weiter bei »Ekstase« nach, so gerät man in eine Endlosschleife, die beide Begriffe sowie auch den der Trance in einem Bedeutungshorizont aufgehen lässt. »Rausch« wird heute zudem in den unterschiedlichsten lebensweltlichen Kontexten gebraucht. Wir sprechen von Kaufrausch, Siegesrausch, Geschwindigkeitsrausch, Alkoholrausch und so weiter – Zustände, die weitgehend von jenem mystischen Transzendenzerleben entkoppelt sind, das der Rausch eigentlich hervorrufen will.

Die begriffliche Aufweichung steht symptomatisch dafür, wie ekstatisches Erleben in der modernen westlichen Gesellschaft mehr und mehr einhegt worden ist. Im Zuge der Rationalisierung der Lebensformen entstand eine Kultur, die außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen nicht nur wenig Raum lässt, sondern sie darüber hinaus auch als gefährlich einstuft. Eventkultur und Massenmedien flankieren, was gesellschaftlich bestenfalls gebilligt ist: kleine Fluchten aus dem Alltag, die die internalisierten Kontrollmechanismen des bürgerlichen Arbeitssubjekts nicht infrage stellen.

Szenefoto aus »Im Rausch«
Foto © Joseph Ruben

Im Zuge des aktuellen Pandemiegeschehens ist der Rausch mit einem neuen Gefahrendiskurs belegt worden. Kneipen, Bars und Clubs, all jene Orte, die sonst die Möglichkeit offerierten, aus dem Alltag auszubrechen und sich zu zerstreuen, stehen uns momentan nur noch bedingt offen. Der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlich Erwarteten und Notwendigen einerseits und dem menschlichen Grundbedürfnis, durch das Vergessen wieder zu sich selbst und zu seinen Mitmenschen zu finden andererseits wird daran für uns alle auf besondere Weise spürbar. Aus diesem aktuellen Dissonanzgefühl heraus, aber mit einem generellen, zukunftsgerichteten Blick fragten wir uns nach den positiven Aspekten des Rauschs. Inwiefern bereichern uns ekstatische Erfahrungen oder lassen uns sogar persönlich wachsen? Unter welchen Bedingungen könnten außergewöhnliche Bewusstseinszustände mehr Raum in unserem Alltag erhalten? Und: Welche Auswirkungen hätte das auf unser Miteinander?

Wie vielleicht keine andere Kunstdisziplin eignet sich der Tanz als Experimentierfeld für diese Fragestellungen. Epochen- und kulturübergreifend ist er immer wieder als eine Technik genutzt worden, um ekstatische Zustände hervorzurufen – mit den rituellen Praktiken der Schamanen und Derwische, der mittelalterlichen »Tanzwut« und den Veranstaltungen der gegenwärtigen Techno- und Ravekultur seien hier nur einige Beispiele genannt. Tanz und Bewegung haben das Potential, biochemische Reaktionen im Körper auszulösen, die das Bewusstsein verändern. Diese Wirkkraft stellen Sätze wie »Wenn ich tanze, bekommt alles um mich herum eine andere Bedeutung.« oder »Wenn ich tanze, habe ich das Gefühl am richtigen Ort zu sein.«, die unseren Ensemblemitgliedern in den begleitenden Gesprächen zu Im Rausch ganz selbstverständlich über die Lippen gingen, lebendig unter Beweis. Und wenn auch das Sich-Gehen-Lassen nicht zum täglichen Programm in den Proben werden konnte – es sollte immerhin ein bühnenreifer Tanzabend entstehen – so hat uns doch das beglückende Gefühl gemeinsamer körperlicher Verausgabung stets begleitet. Mit noch größerer Entschiedenheit als sonst wollen wir die Zuschauer*innen in dieser Produktion daran teilhaben lassen und sie einladen, sich mit einem ästhetischen Erlebnis aus irisierenden Farben, treibenden Beats und einer entfesselten, die Tänzer*innen bis zur Erschöpfung bringenden Choreografie zu berauschen.

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Szenenfoto aus »Im Rausch«
Foto © Joseph Ruben