Komponist Sebastian Schwab und Regisseur Wolfgang Nägele im Gespräch mit Dramaturgin Anne Christine Oppermann
Anne Oppermann: Odysseus’ Heimkehr ist ein neu entwickeltes Musiktheaterwerk, das sich dramaturgisch und musikalisch sehr frei mit Claudio Monteverdis Il ritorno d’Ulisse in patria auseinandersetzt. Es war auch dein Wunsch, Wolfgang, genau diese Oper für eine solche Art der Überschreibung zu wählen. Warum?
Wolfgang Nägele: Das hat erstens etwas mit der Struktur des Ulisse zu tun. Der ja nicht vollständig auskomponiert erhalten ist, fragmentarisch funktioniert und dessen Form sich daher leichter aufbrechen lässt. Und zweitens hat mich vor allem die Story dieser Familienzusammenführung im weitesten Sinne stark interessiert.
Sebastian Schwab: Das Stück eignet sich sehr gut für eine Überschreibung. Diese Frühform der Oper ist noch sehr roh und an vielen Stellen ungeschliffen. Das bietet sich für uns wunderbar an, da wir die Rohmaterialien nehmen und in unsere Richtung formen können. Aber man merkt auch: Die Musik hat eine krasse Kraft und wehrt sich an einigen Stellen. Monteverdi ist auch widerspenstig! Aber für mich war das besonders interessant, die Musik für mich zu bändigen.
Die lückenhafte Quellenlage der vorletzten Opernpartitur Monteverdis, von der nur die Gesangs- und Basslinie überliefert ist, lässt ja viel Interpretationsraum. Wie erfindet man da einen Klang?
S.S. Ich wollte auf der einen Seite einen archaischen Klang, auf der anderen Seite einen lyrischen. Deshalb habe ich versucht, einen kantig-schonungslosen Klang zu finden, der trotzdem zärtlich werden kann. Innerhalb der Corona-Zeit gab es viele Opernreduktionen für kleinere Orchester, damit man trotz der Abstandsregeln musizieren durfte. Natürlich spielte das für uns auch eine Rolle, aber ich konnte ein Stück für eine von mir gewählte Besetzung schreiben. Darin konnte ich künstlerisch eine wesentlich größere Erfüllung finden als in Reduktionen oder Arrangements, von denen ich auch viele gemacht habe. Die Kraft und die Wucht eines vollen Orchesters kann man in einer Reduzierung durch nichts wettmachen. Aber wenn man von vornherein den Fokus auf die Kammermusik legt, wie z. B. bei Brittens Turn of the Screw, dann hat die eine riesige Kraft. Aber sie muss genuin so entstehen.
W.N. Odysseus’ Heimkehr ist keinesfalls ein Corona-Kompromiss, sondern ein eigenständiges Werk.
Wie viel Monteverdi und wie viel Schwab steckt da drin?
S.S. Das ist von Stelle zu Stelle unterschiedlich. Ich habe immer versucht, den Monteverdi in seinem Kern und seiner Aura beizubehalten. Und ich bin es mit Demut angegangen, weil ich mich auf keinen Fall als Künstler über ihn stellen wollte. Das was Monteverdi in den einzelnen Protagonisten angelegt hat, wollte ich in die Extreme führen. In der damaligen Aufführungspraxis machten das vor allem die Continuo-Spieler, die direkt auf den Text reagierten. Das machen wir heute natürlich nicht mehr, wir müssen alles ausschreiben. So habe ich versucht, dass wir da eine Formung und eine Charakterisierung kriegen. Und natürlich habe ich meinen eigenen Klang mit einfließen lassen, so dass es an manchen Stellen schon sehr stark nach mir klingt, aber mit dem Körper von Monteverdi.
W.N. Ich fand ganz toll in der Zusammenarbeit, dass wir kontinuierlich gesprochen haben und man das Besprochene in der Musik wiederfindet, es aber darüber sogar hinausgeht. Also dass Sebastian ein tiefes Verständnis für die Situationen entwickelt hat, die ich mir vorstellte. Und seine Umsetzung mich dann wieder überrascht hat. Was Sebastian gerade über die Extreme gesagt hat, finde ich super: die dramaturgische, aber manchmal auch humoreske Zuspitzung der Charaktere.
Monteverdis Werk ist etwas ausufernd, mit vielen Nebenfiguren und Nebenhandlungen. Wie hast du entschieden, was bleibt, was gestrichen werden kann oder hinzugefügt werden sollte?
W.N. Ich habe erst einmal die ganzen Götter und Nebenhandlungen gestrichen, weil mich vor allem der psychologische Aspekt des Kriegsheimkehrers interessiert hat. Der nach 20 Jahren nach Hause kommt und dort auf Ehefrau und Sohn trifft, die eine vollkommen andere Erwartungshaltung an den Mann haben. Er hat auch eine andere Erwartungshaltung ans Heimkommen. Dieser Clash hat mich interessiert. Was passiert nach 20 Jahren Abwesenheit, wie begegnet man sich neu? Und wie spielt da der Massenmord mit rein, den Odysseus begeht, wenn er als erstes nach der Heimkehr Penelopes Freier umbringt? Daher haben wir uns auf die Kernfamilie, Vater, Mutter, Sohn, und die Antipoden, die fünf Freier als eine der Familie entgegengesetzte Gruppe, konzentriert.
Ein Aspekt, der sicher ins Auge springt, ist, dass Penelope nicht mit einer Sängerin, sondern einer Schauspielerin besetzt ist.
W.N. Bei Monteverdi ist Penelope vor allem eine Wartende und Leidende – und ist dementsprechend recht passiv. Ich wollte dem starken Odysseus eine starke Figur gegenüberstellen, vielleicht sogar eine Figur, die stärker als er ist. Aus deren Perspektive wir die Geschichte auch erzählen. Da hat es sich angeboten, in das sehr formale Renaissance-Konstrukt einen anarchischen Gegenpol zu setzen. Neben der Anreicherung durch ein Madrigal von Monteverdi und ein Gedicht von Petrarca fand ich interessant, den stilisierten Libretto-Texten noch zeitgenössische Prosa gegenüberzustellen. Da habe ich mich mit den Dramaturginnen auf die Suche gemacht und wir wurden bei einem Roman von Dagmar Leupold fündig, der eine moderne Ehekrise schildert. Unsere Penelope kann dadurch einen anderen Blick auf diese Paarkonstellation werfen. Und sie singt übrigens auch – das Petrarca-Gedicht Amor mi manda in einer originären Komposition von Sebastian Schwab.
Dann lasst uns gleich über diesen Song sprechen, den es bei Monteverdi weder textlich noch musikalisch gibt.
W.N. Ich hatte Sebastian einen Jazzsong vorgeschlagen. Daraufhin sagte er: Jazz passt zu Bach, zu Monteverdi passt Rock.
S.S. Stimmt! Mir wäre Jazz zu wenig archaisch gewesen. Was bei Monteverdi in dieser Schaffenszeit auffällt, sind die überwiegend grundständigen Akkorde. Das findet sich in Rocksongs auch, dadurch entsteht eine Bodenhaftung und Archaik. Diese Brücke fand ich interessant. Später in der Musikgeschichte bauen die meisten Akkorde nicht mehr auf dem Grundton im Bass auf. Das führt zu einer anderen, leichteren Tonsprache, wie wir sie im Jazz finden. Wenn wir ein Chanson gewählt hätten, käme Penelope sehr viel weicher rüber. Der andere Punkt: Christina Huckle hat auf der Bühne eine starke Ausstrahlung. Sie hat Qualitäten, mit denen auch Rockstars die Bühne für sich einnehmen. Für unsere zentrale Figur fand ich daher einen Rocksong völlig angemessen. Wir führen ein anderes Frauenbild ein als bei Monteverdi und da kommt uns die Rockmusik zu Gute.
W.N. Genau diese Stärke habe ich gesucht. Die Stärke einer Person, die die letzten 20 Jahre den Königshof verwaltet und alles gut im Griff hat. Die, obwohl sie glaubt, nur auf ihren Mann zu warten, ihn eigentlich gar nicht mehr braucht. Was auch zu dem großen Missverhältnis führt, wenn er nach seiner Rückkehr in die patriarchalen Strukturen zurück will und daher ihre Ehe nicht mehr funktioniert. Gerade das Ende, das so »menschelt«, erlaubt uns einen heutigen Zugang. Vor allem, weil die Odyssee nicht beantwortet, wie es denn eigentlich danach weitergeht. Was sich für die beiden aus der Wiederbegegnung entwickelt, bleibt als Frage stehen.
S.S. Gewisse Zwänge und Probleme in Homers Odyssee, familiärer oder gesellschaftlicher Natur, z. B. wie Krieg die Welt zerstört und Menschen zu Heimatlosen macht, wird es geben, solange es Menschen gibt. Deswegen sind die ganzen Mythen ein klassisch geformter Ausdruck der großen Menschheitsfragen. Die bleiben in veränderter Form aktuell.
W.N. Im Bühnen- und Kostümbild von Timo Dentler und Okarina Peter sind wir zeitlich konkreter geworden. Wir orientieren uns ästhetisch an den frühen 50er Jahren, weil wir noch mal einen Bogen schlagen wollten zu den uns bekannten Heimkehrergeschichten, nämlich der Großväter oder Väter aus dem Zweiten Weltkrieg und den damit verbundenen Konflikten des Traumas und der Wiederkehr. Und auch des Patriarchats. Wie Sebastian sagt, findet man diese Fragen in jeder Zeit wieder. Das ist ein immer wiederkehrender Topos der Menschheitsgeschichte.
Über die Zukunft der Oper wird viel debattiert. Was wären eure Wünsche als junge Theatermacher für die Oper?
S.S. Ich glaube sehr an das Theater und die Oper. Es ist eine geniale Erfindung der Menschheit. Wenn man es schafft, dass Theater die ganze Gesellschaft erreicht und das Elitäre überwindet, dann hat es eine Zukunft. Aber, so wunderbar die Opernmusik seit Monteverdi ist, wir beschäftigen uns größtenteils mit dieser alten Musik und reproduzieren nur. Bloß Regie, Kostüm und Bühne rücken es in ein heutiges Licht. Neue Musik müsste mehr auf die Menschen zugehen. Damit sie davon auch zehren und angesprochen werden. Ich rede da nicht von Gefälligkeit, denn auch gute Popmusik ist nicht immer gefällig, sondern spricht die Probleme der heutigen Zeit an. Ich glaube, jede Zeit hat ihren eigenen Klang. Und wenn Komponisten und Komponistinnen den Klang der jetzigen Zeit wirklich einfangen, dann hat das eine Zukunft. Aber im Gros ist es momentan so: Entweder wir reproduzieren alte Musik und rücken die inszenatorisch in neues Licht oder wir haben – überspitzt gesagt – zeitgenössische Musik, die mit wenigen Gruppen kommunizieren kann. Weil sie, wovon ich überzeugt bin, nicht immer den Klang der jetzigen Zeit trifft, sondern in der Nachkriegszeit verharrt. Da hatte sie ihre Berechtigung, aber ich denke, die Musik und die Komponist*innen müssen neu auf die Suche gehen.
W.N. Ich finde es wichtig, dass man in die Stoffe wirklich reingeht und nicht nur eine äußerliche, inszenatorische Überschreibung vornimmt. Die vom Theater Bielefeld vorgeschlagene Herangehensweise ist da fast ein Geschenk. Dass man in das Stück und auch in die Musik hineingeht, sich von der Tradition etwas entfernt und versuchen darf, eine neue Perspektive zu entwickeln.
S.S. Ich glaube, die große Fähigkeit von Oper ist, dass sie im Jetzt funktioniert und nicht ein Bild an der Wand ist. Sondern es ist eine Zeitkunst, die dich im Moment einnehmen muss. Deswegen dürfen wir es nicht museal verwalten.
W.N. Wie sehr uns der Live-Moment gefehlt hat, haben wir im letzten Jahr ja gemerkt. Und zwar auf beiden Seiten, sowohl auf der Bühne als auch im Zuschauerraum. Das ist unsere Kernkompetenz: das Live-Erlebnis.
S.S. Das ist durch nichts zu ersetzen, dafür muss man kämpfen.