ANIMA OBSCURA, es ist die dunkel verborgene Essenz der menschlichen Seele, die die Choreografin Nanine Linning in der neuen Produktion von TANZ Bielefeld umtreibt. Dunkel ist es auch heute auf der großen Bühne des Theaters, die wir nach Wochen endlich wieder betreten dürfen. Aber heute hat die Dunkelheit eine Besonderheit und rührt nicht, wie in den vergangenen Monaten von Abwesenheit und Stille. Als ich um eine Ecke biege, kann ich Scheinwerfer, mit Stoff bespannte Holzrahmen und einige Menschen erkennen. Ich freue mich, hier die Künstlerin Claudia Rohrmoser und ihr vielseitiges Team kreativer Köpfe treffen zu können, die heute einen für diesen Ort doch ungewöhnlichen Plan haben. Endlich dürfen wir wieder proben und die Arbeit zu einem Stück, welches nun schon seit über einem Jahr in der Planung steckt, auch praktisch fortsetzen. Die Produktion darf ich als Assistentin an der Seite von unserer Kompaniemanagerin und Dramaturgin Janett Metzger begleiten. ANIMA OBSCURA ist nach Noostopia die zweite Produktion in der Reihe D³ – Dance Discovers Digital und vereint auf neue Weise den zeitgenössischen Tanz mit digitalen Techniken. Zu einer spannenden musikalischen Mischung des Deutschen Requiems von Johannes Brahms mit Ein Schemen, einer Rekomposition von Yannis Kyriakides, erforscht Nanine Linning mit ihrem vielfältigen Team eine Idee, die die Menschheit seit Anbeginn der Zeit umtreibt: Unsterblichkeit, ein unendliches Leben, die Möglichkeit den Einschränkungen eines menschlichen Daseins zu entkommen. Es spannt sich eine Brücke von weit in die Geschichte zurückreichenden Bemühungen um das Elixir der Unsterblichkeit zu den aktuellen Möglichkeiten digitaler Technologien.
Heute finden hier Aufnahmen für den Ausdruck dieser Überlegungen in Videos, Animationen und anderen digitalen Elementen des Tanzabends statt. Es wird auf dieser Bühne an diesem Tag nicht geprobt, sie hat sich in ein selbstgebautes Filmstudio verwandelt. An dem ersten Drehtag stehen die Hände des Produktionsteams im Fokus. Dieser Körperteil spielt in der Choreografie von Nanine Linning eine ganz besondere Rolle und wird den Zuschauer*innen im Laufe des Abends auch in Claudias Videoszenografie auf vielseitige Art und Weise begegnen. Ein Aspekt, den ich vor allem auch im Hinblick auf die äußeren Umstände dieser Produktion besonders bemerkenswert finde: Auf Berührung und das Tasten spezialisiert, symbolisieren Hände genau das, was uns in der Zeit des Abstand Haltens besonders fehlt. Trotz aller Einschränkungen spüre ich heute eine besonders fröhliche Stimmung im Team, die ich bereits in den letzten Proben schon bemerken konnte. Es wird viel gelacht und wir freuen uns, die Anderen nicht mehr nur durch den Computerbildschirm sehen zu können.
Als ich ankomme, steht gerade die Musikerin des Tanzabends, die Harfenistin Sylvia Gottstein, auf einem Podest und hält ihre Arme vor dem Körper ausgestreckt. Sie wird in den Vorstellungen nicht nur auf digitale Weise, sondern auch live mit ihrer Harfe zu hören und sehen sein. Mit den Händen macht sie die Bewegungen, die beim Spielen ihres Instruments entstehen und wird dabei von unserer Choreografin beobachtet und angeleitet. Sie wird von der Seite gefilmt und von drei großen Scheinwerfern warm beleuchtet. Auf dem Bildschirm vor uns entsteht so ein faszinierend-atmosphärisches Bild ihrer Hände und Unterarme, welche sich sanft im Licht bewegen. Die simultane Slow-Motion-Bearbeitung gibt ihren Bewegungen einen Charakter, den man normalerweise als Zuschauer*in nicht zu spüren bekommt.
Als zweiten Programmpunkt haben wir einen kleinen Überfall auf die Personen vor, die sonst in Produktionen nicht zu sehen sind. Nanine Linning wünscht sich eine Repräsentation von möglichst vielen verschiedenen Händen, aus unterschiedlichen Altersgruppen und Tätigkeitsfeldern. Denn bei genauerer Betrachtung erzählen die Hände eine intime Geschichte und hüten die Geheimnisse des individuellen Lebenswandels.
Eine große Box wird mit einem schwarzen Tuch bespannt zu einem Aufnahmetisch, eine Kamera, an der oberen Brücke über dem Bühnenraum befestigt, filmt die Bewegungen aus der Vogelperspektive. Die Choreografie wird von Nanine Linnings Assistent Kyle Patrick durchgeführt und für unsere Teilnehmer*innen auf einem Bildschirm abgespielt. So kann die Aufnahme ohne vorheriges Proben oder besondere tänzerische Kenntnisse stattfinden. Es ist ein spannender Gedanke, dass die sonst verborgenen Mitglieder des Produktionsteams zu den Vorstellungen in den Animationen einen Platz auf der Bühne einnehmen und ihre Beteiligung auf neue Art und Weise in den Tanzabend einfließt. So werden heute neben unseren zehn Tänzer*innen auch Menschen wie die Produktionsleiterin, der Bühnenmeister, die Dramaturgin, alle beteiligten Assistent*innen und das Bühnentechnik-Team Teil der choreografischen Arbeit.
Ich blicke mit Vorfreude auf die kommenden Wochen unserer restlichen Probenphase, in denen die heute getroffenen Vorbereitungen mit der Choreografie, den Kostümen und dem Licht auf der Bühne zu einem großen Ganzen vereint werden. Im Herbst 2021 dürfen wir diese besondere Produktion dann endlich auf der Bühne erleben, es bleibt spannend!