Über meinen Besuch der zweiten Hauptprobe der Jungfrau von Orleans – von Stefanie Hampel
Es herrscht geschäftiges Treiben auf der Bühne des Stadttheaters, kurz vor Beginn der zweiten Hauptprobe des Stücks Die Jungfrau von Orleans. Die SchauspielerInnen probieren sich noch auf der geneigten Drehbühne aus, rutschen die Rampe in den Orchestergraben hinunter, nur um sie sogleich wieder hinaufzuklettern. Sie treffen die letzten Absprachen: Wie setzen wir den Fuß auf die Rampe, wenn Henriette den Helm aufsetzt? Wie ist das Hinunterrutschen am sichersten? Körperlich verlangt die Inszenierung von Christian Schlüter viel von den DarstellerInnen, sie müssen genau instruiert werden. Choreograf Gianni Cuccaro beobachtet das Geschehen, schaut sich genau an, wie sie fallen und rollen. Der Probenbeginn verzögert sich – das Kostüm von Hauptdarstellerin Henriette Nagel muss noch geflickt werden. Doch dann sind alle bereit.
Henriette klettert nun als Johanna die Rampe aus dem Orchestergraben hoch. Sie sieht stark aus, kampfbereit: schwere, dunkel glänzende Schnürstiefel, eine schwarze Hose, ein durchschimmerndes, hochgeschlossenes Oberteil. Nicht gerade das typische Outfit eines Hirtenmädchens des 15. Jahrhunderts. Noch sitzt sie tatenlos am Rand der Rampe, als ihr Vater (Thomas Wolff) über die Zukunft Frankreichs und die Johannas spricht – er will sie verheiratet sehen. Doch dann steht Johanna auf, beide Füße fest verwurzelt auf dem Boden. Sie setzt den Helm auf, den Funken der Entfachung ihrer fanatischen, angeblich gottgegebenen Idee: Sie will Frankreich von den englischen Besatzern, die mit den Burgundern im Bunde sind, befreien. Mit einem Schlag kugeln ihr Vater und ihr Verehrer die Rampe hinunter. Von nun an folgt sie der inneren Stimme Gottes und verpflichtet sich zur Jungfräulichkeit, um ihre Mission zu erfüllen. Sie ist nicht mehr einfache Schafhirtin, sie sieht sich als Hirtin einer ganzen Nation. Johanna ergreift das Schwert und erklimmt die steile Drehbühne sicheren Schritts. Wie ein Fels in der Brandung steht sie da, wie eine Statue, Schwert und Blick gen Himmel gerichtet. Bemerkenswert, was für eine radikale Macht und gefährliche Kraft entstehen kann, wenn man nur von einer Sache ganz überzeugt ist. Johannas Überzeugung ergreift auch mich, ich lasse mich mitreißen, bin beeindruckt von der Rauschhaftigkeit ihres Handelns. Wann habe ich mich das letzte Mal einer Sache so hingegeben?
Der Dauphin Frankreichs (Cornelius Gebert) hingegen hat indes ohnmächtig resigniert. Einem bockigen Jugendlichen gleich trotzt er den Ermutigungen seines Gefolges. Er sitzt zusammengesunken am Rand der Rampe, Beine und Arme verschränkt, den Blick gesenkt, doch Johanna und ihre Siege über die Engländer mobilisieren ihn. Sie zieht ihn in die Schlacht, sie kämpfen sich die schräge Drehbühne hinauf, rollen wieder hinunter, rennen jedoch unermüdlich immer wieder hoch, zum Angriff. Im Lager der Engländer wagen die Kämpfer einen Tanz gegen Schatten: Sie ducken sich blitzschnell vor unsichtbaren Gegnern, greifen an mit Schwertern aus Luft, kommen langsam aus der Hocke aus der Deckung. Die Anspannung der Formation ist spürbar.
Ein junger Engländer, Montgomery (Jan Hille), ist entkräftet vom Kampf. Er kann nicht mehr stehen, hält sich am Geländer fest, strauchelt. Mit einem einfachen Schwertstreich über den Boden bringt Johanna ihn buchstäblich zu Fall. Gnadenlos packt sie den schwachen Mann und schleift ihn quer über die Drehbühne. Er appelliert in Hoffnung auf Gnade an ihre Weiblichkeit und damit an ihre Menschlichkeit; er klammert sich an ihre Beine, als er zu ihren Füßen liegt. Ich habe Mitleid mit dem Mann – wie könnte ich anders? Doch Johanna setzt sich als Mörderin, nicht als Frau, rittlings auf ihn und tötet ihn kurzerhand. Sie ist radikal und ich erschrocken.
Kraftloser wird Johannas Haltung, als sie bemerkt, dass sie von ihrer Umwelt doch nur als Mensch, als Frau, wahrgenommen wird, unsicher und klein sind ihre Schritte, als der Schwarze Ritter sie die Rampe hinuntertreibt und sie dazu drängt, ihre Mission abzubrechen.
Während ihres Kampfes gegen Lionel (Jan Hille) – sie sitzt wie bei Montgomerys Tod rittlings auf ihrem Gegner – keimen Gefühle in ihr auf, als sie im Begriff ist, ihn zu töten. Entsetzt springt Johanna auf, weicht vor ihm zurück, dreht ihm den Rücken zu. Beschämt von ihrer eigenen Menschlichkeit steht sie ganz am Rand der Bühne. Ihre fixe Idee gerät ins Wanken. Als sie zu Lionel zurückkehrt, kann sie sich nicht halten, ihre Bewegungen werden ganz weich und sie sinkt an seine Brust. Ihre Hand greift verkrampft in den Stoff ihres Kostüms, sie berührt ihren eigenen menschlichen Körper. Ich wünsche ihr Liebe, wünsche ihr Mitleid und wünsche ihr Zweifel und für einen kurzen Moment vergisst sie sich, gibt sich halb hin, doch dann springt sie auf, rennt davon, wischt sich über den Mund. Sie verliert im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen, als die Bühne sich dreht. Sie weiß nicht mehr, wer sie ist. Taumelnd, fallend rutscht sie die Steile hinab.
Ganz am Ende jedoch, als Johanna stirbt, um sich doch ganz ihrer Nation und ihrem Glauben, ihrer Idee, zu opfern, ist sie körperlos. Ich sehe nur noch ihr Gesicht, erhellt von einem einzelnen brennenden Streichholz, und höre ihre Stimme, die durch die Dunkelheit hallt.
Zum Glück sind wir menschlich. Zum Glück stolpern wir über unsere Gefühle, sie lassen uns innehalten und infrage stellen, was wir tun. Wir dürfen straucheln, wir dürfen zweifeln, wir dürfen das tun, was wir allein für richtig halten. Als ich an dem Abend nach Hause gehe, bin ich ziemlich froh darüber.