Über die Oper »Katja Kabanowa«

»Freut euch, wenn euer Gott freundlicher war als meiner.« (Tilmann Moser)

Ach Katja K., warum bist Du nur mit Dir so streng? Ist Dein Gott auch einer, von dem Du annimmst, dass er alles sieht? Kannst Du Dir Deine Liebessehnsucht nicht verzeihen, weil Gott Dir nicht verzeihen wird? Glaubst Du das wirklich?

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Als Medizinstudent machte ich ein Praktikum in einer Psychosomatischen Klinik. Ich erinnere mich genau an eine etwas wirre, aber irgendwie wie innerlich leuchtende Frau, die in sich selbst wie gefangen wirkte. Der knappe Kommentar des Chefarztes nach der Visite bei dieser Frau: »ecclesiogene Neurose« (= kirchengemachte Neurose).

Leoš Janáček, unglücklich verheiratet, verliebte sich mit 61 Jahren während eines Kuraufenthaltes in eine 38 Jahre jüngere glücklich verheiratete Frau, Kamila Stösslová. Diese 11 Jahre bis zu Janáčeks Tod dauernde, eher einseitige Liebe bewirkte (neben seinem Rentendasein) in Janáček eine ungeheure musikalische Produktivität. Seine vier Meisteropern, Katja Kabanowa war die erste davon, entstanden in dieser Zeit, aber auch die Glagolitische Messe, eine Messe mit tschechischer Übersetzung des lateinischen Messetextes. Nach der Uraufführung der Messe in Brünn schrieb ein Kritiker: »Nun ist Janáček im Alter gläubig geworden.« Janáček schrieb dem Kritiker knapp zurück: »Weder alt, noch gläubig!«

Die Frage der Gottesfurcht ist zentral für die Handlung der Oper Katja Kabanowa. Das Schauspiel Gewitter von Alexander Ostrowski spielt in dem Städtchen Kalinow an der Wolga um 1850. Es wurde in Russland unglaubliche 4000x gespielt, ein wirklicher Hit. Aus diesem Schauspiel baut Janáček sein sehr stringentes Libretto und konzentriert sich hauptsächlich auf die Titelfigur Katja und ihren familiären Umkreis. Nicht ganz dazu gehört der Freund ihrer Pflegeschwester Varvara, der Lehrer Kudrjasch. Er ist der einzige in dieser kleinen Gesellschaft, der von Aufklärung, von Wissenschaft und Technik etwas gehört hat. Vorgestellt wird er als Chemiker, Mechaniker und Lehrer. Als Kudrjasch später im Verlauf der Handlung dem Kaufmann Dikoj vorschlägt, bei Gewitter doch am besten Blitzableiter auf die Häuser zu montieren, reagiert Dikoj geradezu empört: Gewitter ist doch ein Zeichen Gottes (und nicht nur ein elektrisches Phänomen, wie Kudrjasch seltsamerweise behauptet).

1752 erschüttert das Erdbeben von Lissabon die geistige Stabilität ganz Europas. Auch hier verwahrt sich die Elite, insbesondere die kirchliche, dagegen, im Erdbeben nur ein Naturphänomen zu sehen, sondern doch eben auch eine Strafe Gottes. Im fernen Königsberg sitzt der Philosoph Immanuel Kant, (dessen 300. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird) und ist gerade dabei, Gottes Existenz weitgehend in Frage zu stellen und dafür die Freiheit des Menschen, auch die Freiheit des Menschen von »Gott« zu erklären. Als Begründer der Aufklärung mag Kant womöglich von Kudrjasch gelesen worden sein.

Um 1860 wird in der Schweiz Friedrich Nietzsche erklären, dass »Gott tot ist«. Weitere 100 Jahre später wird der Psychoanalytiker Tilmann Moser, streng pietistisch erzogen und Opfer einer ecclesiogenen Neurose, Gott vergiften, um sich von diesem zu befreien.

Die junge Frau Katja mit ihrer intensiv erlebten jugendlichen Engelserfahrung im Gottesdienst kann gar keine Zweifel fühlen an der Existenz Gottes. Die Sängerin der Katja in der Bielefelder Inszenierung, Heather Engebretson, verrät im Gespräch (das im Programmheft zu lesen ist), dass sie annimmt, dass irgendetwas mit Katja nicht stimmt. Heather glaubt Katja einfach die Engelserfahrung nicht. Hat womöglich jede religiöse Erfahrung einen gewissen Wahncharakter? Auch Varvara fragt Katja im Libretto: Bist Du krank? Hast Du einen Anfall? Katja antwortet nahezu empört: Nein, ich bin nicht krank!

Die Musik allerdings, die Janáček um seine Katja flicht, hat jedenfalls etwas zutiefst liebevolles, fast ein Heiligenschein umweht Katjas ersten Auftritt. Neben allen Schroffheiten, die Janáčeks Musik eben auch auszeichnet, webt er hier womöglich seine Verliebtheit in Kamila hinein – vielleicht gilt ihr diese Musik, die Katja umwebt. Ach, wie schön ist diese Musik …

Zu Janáčeks Musiksprache
»Darin unterscheidet sich Janáčeks Musik grundsätzlich von der klassischen und der an deren Maß entwickelten romantischen Musik. Während diese alle Details zu determinieren trachtet, allen Stationen als die Gewissheit über Verlauf und Funktion eingeschrieben ist, lässt jene alles offen – wie, wann, und ob überhaupt der Flug gelinge …« (Peter Gülke)

Janáčeks Musiksprache ist sehr originell und sofort als eigenständig zu erkennen (wie z. B. Bach, Mozart, Brahms oder Mahler). Woher kommt die Originalität dieser Musik?

Leoš Janáček war sein ganzes musikalisches Leben ein Forscher. Er sammelte die Volkslieder seiner Heimat (wie Bartók und Kodály), daneben interessierte ihn insbesondere das Sprechen seiner Landsleute. Akribisch und mit nahezu wissenschaftlichem Aufwand zeichnete er das Sprechen der Menschen auf der Straße auf, daneben auch Alltagsgeräusche. Dabei war sein Hauptinteresse weniger: wie spricht der Mensch diesen Satz aus?, sondern wie spricht dieser Mensch seinen Satz? Er war vollkommen davon überzeugt, dass er bei genauer Beobachtung der Sprechweise in die Seele des Sprechenden schauen könnte. Und dies wurde ihm zum Modell seiner Musiksprache. Und da das Sprechen auch immer etwas Chaotisches an sich hat, lehnte Janáček weitgehend die traditionellen Formen der Kompositionstechnik seiner und früherer Zeiten ab. Ziel seiner musikalischen Sprache ist der sich seelisch äußernde Mensch. So wird in Katja Kabanowa genau betrachtet eigentlich nicht gesungen (im Sinne der klassischen Oper in Arienform mit z. B. Koloraturen), sondern rezitativisch »gesprochen«. »Gesungen« im eigentlichen Sinne wird nur im Volkslied des Kudrjasch und in der Antwort der Varvara (diesen Hinweis verdanke ich dem Dirigenten der Bielefelder Aufführung, Gregor Rot). In der Partitur stehen diese Zeilen in Anführungszeichen, um das Singen im Gesang zu markieren.

Neben dieser Besonderheit der »Sprechmelodie« ist sehr charakteristisch der Umgang mit Motiven. Janáček hämmerte, wie Zeitgenossen berichten, wie verrückt auf ein Klavier, bis er sein »Motiv« gefunden hat. Diese Motive entwickeln sich im Verlauf der Komposition immer weiter, verändern sich, drehen sich um, werden überraschend ergänzt durch neue Motive. Sehr viel arbeitet Janáček mit perkussiven Motivwiederholungen, die vollkommen überraschende Wendungen nehmen. Dadurch entsteht ein fortwährender Sog, dem der Zuhörer nur gebannt folgen kann (s. Beispiel). In der ganzen Oper Katja Kabanowa gibt es nur eine einzige Stelle, wo das Liebespaar Katja und Boris für ca. 3 Sekunden zusammen singt (im Oktavabstand) und das Operngenre im engeren Sinn »bedient«. Ansonsten gibt es bis auf ein Vorspiel keine Duette, keine traditionellen Opernformen.
Der Flug beginnt und wir folgen der tragischen, unfassbar knapp und unmittelbar erzählten Geschichte authentischer Menschen, die um Liebe ringen und aneinander scheitern.

 

Noch zwei Aspekte zur sehr gelungenen Inszenierung in Bielefeld.
Das leergeräumte Einheitsbühnenbild von Martin Zlabinger verwendet hauptsächlich Holz. Sinnbildlich soll es die ausgetrocknete Wolga symbolisieren. Hier findet die Wolga als schöner Naturtopos nicht mehr statt. Die Kaufleute handeln mit Holz und benutzen die Wolga als Wasserstraße. Die Naturschönheit der Wolga, die bezeichnenderweise gerade Kudrjasch am Anfang der Oper besingt (»Ein Wunder, ein Wunder…!«) nimmt seine Umgebung nicht wahr, die Dienerin Glascha schimpft Kudrjasch für diesen Unsinn aus …
Die einzelnen Holzelemente, die in diesen Bühnenraum hereinschweben, zeichnen sehr genau spezielle Atmosphären einzelner Szenen nach. Besonders das Riesenkreuz, das über Katja geradezu hereinbricht und dann auch noch zu leuchten anfängt – sinnfälliger kann Katjas Glaubenswahn nicht gerahmt werden.
Besonders gefallen hat mir die differenzierte Personenregie von Georg Zlabinger. Tichon ist hier nicht nur der etwas dümmliche, unerotische, uncoole Ehemann von Katja, wie er sonst gerne dargestellt wird. Katja liebt berechtigterweise diesen Mann neben Boris und das wird sehr verständlich gezeigt. Ihrer Zerrissenheit zwischen Glaube, Sünde, Liebe und Selbstbestrafung wird so umso deutlicher.

Jörn Buldmann

»Silence is dangerous. Don’t kill Othello.«

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